Niemandsland
ich konnte, schob es zu und schloß das Fenster. Anne-Marie ging in ihr
Zimmer. Als sie wiederkam, schüttelte sie den Kopf und kümmerte sich dann um
das Feuer. Ich ging noch einmal in mein Schlafzimmer und sah mir die
Reisetasche näher an. Der Reißverschluß der Seitentasche war aufgezogen. Die
Kuverts, die ich in meinem Büro dort hineingesteckt hatte, waren durcheinander.
Ich zog sie heraus und nahm sie mit ins Wohnzimmer.
»Was ist das?« fragte Anne-Marie, goß
Brandy in die Gläser und ging mit ihrem Glas zum Rattansessel gegenüber der
Couch.
»Meine Post. Erinnerst du dich daran,
daß in meiner Nachbarschaft Kinder mal die Postkästen mit Abfall
vollschütteten? Irgendwann waren sie dann auch an meinem, und deswegen lasse
ich mir meine gesamte Post zu All Souls schicken. Es sieht so aus, als hätte
der Einbrecher die Umschläge hier durchsucht.«
»Gibt es darin etwas, das dich als
Detektivin ausweist?«
»Auf den Nachsendeaufklebem steht
überall All Souls, aber nicht meine Funktion. Die meisten Leute werden wohl
einfach glauben, daß ich Anwältin bin.« Ich setzte mich und ging die Umschläge
durch.
»Ich weiß nicht genau, warum, aber ich
nehme kaum an, daß hier jemand deinen Beruf kennt. Vielleicht ist Hys Hang zur
Geheimniskrämerei ansteckend.«
»Also, ich habe hier meine Visa-Karte
und Rechnungen von Macy’s, eine Spendenbitte der ›Freunde der Bibliothek‹ und einen
Brief von meiner Mutter. Da wird nirgends mein Job erwähnt. Da fällt mir
übrigens etwas ein.« Ich hielt den Brief meiner Mutter hoch. »Ich muß
spätestens Dienstag nachmittag wieder in der City sein. Sie kommt mich
besuchen.«
Anne-Marie sah mich überrascht an. Sie
wußte, daß Ma selten einen Schritt aus San Diego heraus tat. »Wieso?«
»Ich weiß nicht, warum, und meine
Geschwister auch nicht, aber Ma scheint sich auf eine Odyssee von einem von uns
zum nächsten gemacht zu haben. Es ist rätselhaft — und irgendwie macht es mich
nervös.«
»Vielleicht möchte sie George
kennenlernen und schützt diese sogenannte Odyssee vor, um sich über ihn zu
informieren.«
»So raffiniert ist Ma nicht. Aber sie
soll ihre Gelegenheit bekommen. Er hat uns für Dienstag abend zum Dinner
eingeladen.«
»Deinen Bericht darüber kann ich kaum erwarten !«
»Ich kann warten. Ich könnte mein Leben
lang darauf warten.« Ma meint es gut mit mir, und ich liebe sie, aber sie kann
den Männern, mit denen ich es zu tun habe, ziemlich auf den Leib rücken — und
sogar denen, mit denen ich nichts zu tun habe. »Ich glaube«, fuhr ich
fort, »ich versuche mal, mir hier soviel Einblick zu verschaffen wie möglich.
Wenn ich dann wieder in der City bin, erkundige ich mich über Transpacific und
komme, wenn nötig, nächstes Wochenende wieder her.«
Sie nickte und sah nach dem Feuer. Ich
entspannte mich, genoß die Wärme und nippte an meinem Brandy. Dann kam mir ein
beunruhigender Gedanke. »Anne-Marie«, sagte ich, »könntest du dir vorstellen,
daß der Mensch, der meine Post durchsucht hat, bei All Souls anruft und dort
mehr über mich herauszubekommen versucht?«
»...Schon möglich. Aber mach dir keine
Sorgen. Wie ich schon sagte, bin ich wahrscheinlich übervorsichtig.«
»Vielleicht auch nicht.« Ich erzählte
ihr kurz, was ich im Tufa-Wald erlebt hatte.
Als ich zu Ende war, schwieg sie eine
Weile. »Du solltest wohl besser bei All Souls anrufen und ihnen sagen, daß sie
keine Informationen über dich herausgeben.«
»Gute Idee.« Ich stand auf und suchte
nach einem Telefon.
»Gibt es hier nicht«, sagte sie, »aber
du kannst bei Mrs. Wittington telefonieren.«
Ich sah auf die Uhr. »Ist halb zwölf
nicht ein bißchen spät, sie zu belästigen?«
»Überhaupt nicht — wie ich hängt sie
jeden Abend vor dem Spätfilm. Ich bin diese Woche schon ein paarmal bei ihr
oben gewesen und habe mit ihr bis um zwei in den Fernseher geguckt. Sie mag
blutrünstige Geschichten und Truckerfilme.«
»Trucker?«
»Hm. They Drive by Night, Smoky and the Bandit. Egal, wer mitspielt, wie schlecht der
Film ist oder aus welcher Zeit er stammt, solange nur ein Truck darin vorkommt
und ein harter Bursche am Steuer sitzt. Rose besteht nur aus Widersprüchen: Hat
die gepfeffertsten Redensarten drauf und liebt einen steifen Bourbon, glaubt an
Wiedergeburt, sitzt aber auch jeden Samstagabend in der Bibelstunde in
Bridgeport.«
»Interessante Frau. Wenn ich sie also
nicht störe, gehe ich hinauf und rufe gleich an.«
Als Rose Wittington mich
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