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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Rauhen Alb etwa. Er beorderte einen Gehilfen zu sich, der den Klavierauszug erstellen sollte, und empfing ihn mit den Worten: »Ich bin am Ende!« Das war am Sonnabend, dem 29. April 1864.
    Am Montagabend wurde im Hause des Königlichen Stuttgarter Kapellmeisters Eckert, den Wagner »einen sehr gutartigen Menschen« nennt, die Karte eines Mannes abgegeben, der zufolge er Secrétaire aulique de S. M. le roi de Bavière war. Er suche Herrn Richard Wagner.
    Der Gast, der sich die table d’hote in seinem Hotel nicht leisten konnte und umso dankbarer für die kapellmeisterliche Einladung zum Abendbrot war – wer weiß, wo er in der Rauhen Alb essen würde –, erschrak, dass man ihn so schnell auch hier gefunden hatte, und ließ ausrichten, er sei gar nicht da. Dass er beim König von Bayern eigentlich keine Schulden hatte, drang nicht in sein Bewusstsein, das das Bewusstsein eines verfolgten Schuldners war. Und war Bayern nicht immer für Österreich? Als er in sein Hotel zurückkehrte, das er nicht bezahlen konnte, richtete ihm der Wirt aus, dass ein Herr aus München ihn dringend zu sprechen wünsche. Vielleicht erwog der Flüchtling kurz, noch in der Nacht abzureisen – am nächsten Morgen würde er es ohnehin tun –, kapitulierte dann aber: Um 10.00 Uhr sei er bereit, den Besuch zu empfangen. Er schlief schlecht. Die Koffer waren gepackt, die Rauhe Alb würde ein guter Ort für ihn sein, denn ein rauer Alptraum war sein Dasein ohnehin, und dann trat der Hofrat seiner Majestät ein.
    Nie wieder wird Franz Seraph von Pfistermeister – kein anderer als Pfi – so froh sein, Richard Wagner zu sehen. Voll unsäglicher Erleichterung, endlich den schon zwei Wochen lang überall – in Wien, in Zürich – Gesuchten gefunden zu haben, übergab er ihm einen Ring vom König, ein Bild vom König und einen Brief vom König. In den Worten des Gefundenen: »Mit wenigen, aber bis ins Herz meines Lebens dringenden Zeilen, bekannte mir der junge Monarch seine große Zuneigung für meine Kunst und seinen festen Willen mich für immer als Freund an seiner Seite jeder Unbill des Schicksals zu entziehen.« 121
    Und dann stand er vor ihm. Wagner begriff mit dem ersten Blick, wer er ist, sein ganzes Schicksal: »Er ist leider so schön und geistvoll, seelenvoll und herrlich, daß ich fürchte, sein Leben müsse wie ein flüchtiger Göttertraum in dieser gemeinen Welt zerrinnen … er kennt und weiß alles von mir und versteht mich wie meine Seele.« 122 Und: »Mein Glück ist so groß, daß ich ganz zerschmettert davon bin.« 123
    *
    Richard Wagner und Cosima hatten zu Beginn dieses Jahres bereits mit dem Gedanken einer Dachstubenexistenz in Paris experimentiert. Sie waren noch immer ohne jedes Zeichen von Ludwig, dem Falscheidschwörer. Und wenn es ein Zeichen des Unmuts gewesen wäre! Auf ein schlechtes hätte Richard Wagner reagieren können. Es lässt sich nur vermuten, welche Emotionen die Paris-Perspektive im Hausherrn von Tribschen weckte. Die Stadt seiner größten Niederlage! Cosima wiederum sah ihren Verdacht, dass es weit und breit keine größere Sünderin gäbe als sie, ergänzt durch den Umstand, dass Wagner nicht für ihre Kinder würde sorgen können – weder für die gemeinsamen wie die nicht gemeinsamen –, schon weil er unfähig ist, »sich zu beschränken«.
    Mochten Richard Wagner und Ludwig II. von Bayern auch Parallelregenten sein, Herrscher in ihren jeweils eigenen Königreichen, so bestand der größte Unterschied zwischen ihnen doch unbeirrt weiter: Der eine König besaß Geld, der andere besaß keins. Und dann, zwei Tage, bevor Nietzsche seinen Ruf erhielt, erhielt auch Wagner einen von ähnlicher Bedeutsamkeit. Es war ein Zuruf aus München, ergangen am 10. Februar.
    Es war ein Generalpardon, das ihm, Richard Wagner, gleichwohl zu verstehen gab, dass er von nun an eine Geisel war. Ludwig teilte ihm mit, dass er dringend einer Freude bedürfe, und er wusste auch schon welcher: der Uraufführung des »Rheingolds« bei ihm in München. Dass Wagner genau das nicht will, weiß Ludwig auch – er will es nicht so unverbunden und nicht in einem gewöhnlichen Repertoiretheater, das seinem Werk nicht gewachsen ist. Ja, vor fünf Jahren, am Beginn dieses eigentümlichsten Bündnisses zwischen einem König und einem Künstler, einem kleinen König und einem großen Künstler, hatte der kleine König den großen Befehl zum Bau des Nibelungentheaters erteilt. Jetzt will er die Nibelungen auch ohne eigenes Theater.
    Er

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