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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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gehen die Meisten ins Wirthshaus oder zum »Collegen« und da purzeln dann wie die kleinen Katzen die Gedanklein und Plänlein heraus. Wenn wir aber trächtig sind, da ist niemand zu Hülfe, der uns bei der schweren Geburt beisteht: und finster und morose legen wir dann unsern derben ungestalten neugebornen Gedanken in irgend eine dunkle Höhle; das Sonnenlicht der Freundschaft fehlt ihm. 104 Es ist dieser Brief an Rohde, in dem Nietzsche durchblicken lässt, dass er durchaus bemerkt hat, dass Tribschen am Morgen nach seiner ersten Nacht dort einen Bewohner mehr hatte: Als ich das vorletzte Mal dort war, kam gerade in der Nacht meines Aufenthaltes ein kleiner Junge zur Welt, »Siegfried« zubenannt.
    Auch Richard Wagner wird bald den Umstand bedenken, dass der noch Halbfremde gewissermaßen mit an Siegfrieds Wiege stand. Gehört er so nicht vom ersten Augenblick an zur Familie? Richard Wagner ist im selben Jahr geboren wie Nietzsches Vater, er im Mai, Carl Ludwig Nietzsche, Pfarrer und Prinzessinnenerzieher zu Altenburg im Oktober 1813. Nietzsche hat seinen Vater früh verloren, Wagner hätte wohl ein Kind, vielleicht einen Sohn in Nietzsches Alter, hätte seine erste Frau Minna Kinder bekommen. Könnte er nicht Siegfrieds Großvater sein? Sollten sie nicht gemeinsam dem kleinen Siegfried Vater sein, und er, Richard Wagner, adoptiert dafür gleich noch den Professor? Das wäre wohl das richtige Wort: insofern man denn Professoren adoptieren kann. Aber diese Gedanken kommen dem Komponisten des »Siegfried« erst im Herbst, schließlich haben sie sich bis jetzt gerade drei Mal gesehen.

Die Rheintöchter – ein »Hurenaquarium«?
Gemälde von Ferdinand Leeke, 1896.
    Freund, wie soll das enden? oder
Das Wiegenlied der Welt
    Richard Wagner weiß nur zu genau, dass er Ludwig alles verdankt, nicht zuletzt den Umstand, dass er noch am Leben ist. Ludwig und Cosima sind die beiden Bürgen seines Noch-Daseins. All die Jahre nach seinem 50. Geburtstag sind ein großes Danach, er wird das nie vergessen. Und noch als Nietzsche ihm seine Schrift »Die Geburt der Tragödie« übergibt – es werden mehr als zwei Jahre vergehen –, muss seine Reaktion Außenstehenden merkwürdig scheinen: Es sei doch gut, dass er damals nicht gestorben sei, schon um das noch zu erleben, das noch lesen zu dürfen.
    Wer war er denn zuletzt, bevor Ludwig ihn rettete? Ein Flüchtling, vor sich selbst sowie vor seinen Gläubigern, ein ganz haltlos Gewordener am Ende, der nirgends mehr eine Zuflucht hatte, nicht einmal bei den Wesendoncks. Mathilde von Wesendonck, der die Welt Wagners »Tristan« sowie die Wesendonck-Lieder verdankt, hatte sich zuletzt geweigert, für ihn ihren Mann zu verlassen, und schrieb ihm längst grundvernünftige Mahnbriefe. September 1863: »Freund, wie soll das enden? Sind fünfzig Jahre nicht Erfahrung genug, und sollte da nicht endlich der Moment eintreten, wo Sie ganz mit sich im reinen wären?« Die Briefe, die er ihr sandte, kamen nun oft ungeöffnet zurück.
    Mathilde-Isolde hatte recht, es ließ sich nicht leugnen, im Mai 1863 war Richard Wagner ein halbes Jahrhundert alt geworden und stand vor den Trümmern seines Lebens. Kaiserin Elisabeths – »Sissis« – Leibarzt und Förderer des »Tristan« Stand hartner hatte ihn durch diesen Tag gebracht und verhindert, dass es ein Datum der Verzweiflung wurde. Aber dass fünfzig Jahre – Erfahrung oder nicht – genug sind, das begriff er nun auch. Zumal der Suizid das zuverlässigste Mittel ist, seine Schulden loszuwerden.
    Er bewohnte – allein – eine ganze Villen-Etage am Schönbrunner Schlossgarten und hatte auch nicht versäumt, diese nach allen Regeln dessen, was er für Geschmack hielt, einzurichten – viel Samt, viel Seide –, allein die Miete von 1200 Gulden im Jahr überstieg seine Einkünfte um ein Beträchtliches, erst recht, da er nur zu bald gar keine mehr hatte. Und es waren auch keine zu erwarten, denn der eigentliche Grund seines Auf enthaltes, der »Tristan«, wurde, wie längst erwähnt, nach 77 Pro ben »auf immer zurückgelegt«. Was ihm noch mehr Kosten verursachte, denn nicht nur, dass er den langen Probenzeitraum überleben musste, er hatte auch einen Versuch unternommen, die Wiener zu bestechen. Durch Begeisterung.
    Sie hatten seinen »Lohengrin« bejubelt, und er würde, das wusste er, sie wieder zum Jubeln bringen. Das würde dann auch dem »Tristan« helfen. Also ließ er Konzerte mit Stücken aus seinen noch unvollendeten Werken aufführen,

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