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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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fliegt fast jede Woche auch ein Brief dieselbe Bahn. Lieber Freund, was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Aeschylos und Pindar leben noch, glaub es nur. 127 Inkarniert in einer Person, die, wenn man dem Berichterstatter glauben darf, bei all dem noch Zeit findet, Cosima Nietzsches Baseler Antrittsrede über die Persönlichkeit Homers vorzulesen – Nietzsche hat sie in wenigen Exemplaren für seine Freunde drucken lassen – und dem Verfasser gegenüber zu äußern, mit allen vorgetragnen aesthetischen Ansichten übereinzustimmen, vor allem aber mit der Art der Problemstellung, was ja aller Weisheit Anfang und Ende sei und woran meist gar nicht gedacht werde. 128 Ja, wer soll das beurteilen können, wenn nicht der größte aller Philologen?
    Nun ist es jedoch überhaupt nicht immer so, dass der eine Philologe die Ansichten des anderen teilt. Am 19. September kommt es zwischen ihnen zum ersten Streit. Vielleicht ist der Hausherr auch nur nervös, die »Rheingold«-Katastrophe in München steht unmittelbar bevor, und der Gast am Tisch will seine Suppe nicht essen, vielmehr: die Suppe schon, aber nicht den Braten danach.
    Ich bin Pflanzenköstler, bekennt der Professor, vielleicht gar leicht errötend.
    Sie sind ein Esel!, antwortet – nach dem späteren Zeugnis Cosimas – der Mann, der nach Überzeugung seines Gastes Schopenhauer und Goethe, Aeschylos und Pindar in einer Person ist, dazu am 15. August Juppiter tituliert wurde, nur um am 25. August als größter Genius und größter Mensch dieser Zeit identifiziert worden zu sein und immer so weiter.
    Und wenn der größte Genius und größte Mensch dieser Zeit ihn einen Esel nennt, so muss Friedrich Nietzsche das zu denken geben.
    Ein verrückter König in München und ein Vegetarier an seinem Tisch, das ist zu viel für Wagner. Hat der Professor seine Pariser Berichte nicht gelesen? Nun ist unter Schopenhauerianern das Vegetariertum durchaus keine abwegige Angelegenheit: Tat twam asi! Das bist auch du!, ruft alle leidende Kreatur dem Menschen zu, leidende Kreatur auch er, und jeder, der Schopenhauer gelesen hat, versteht diesen Ruf. Achtung vor dem Tier! Wagner, das aktive Mitglied des »Internationalen Vereins zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Tierfolter«, versteht ihn natürlich auch. Wagner, der seine Frau mit aschfahlem Gesicht und tiefer Verstörtheit zu Tode erschrecken kann: Befragt nach der Ursache, stellt sich am Ende heraus, dass er in Luzern einen kranken Hund sah. Dieser Anblick! Und nicht helfen können! 129
    Auch Richard Wagner hat schon mit der fleischlosen Ernährungsweise experimentiert, andererseits experimentieren die Armen allerorten erzwungenermaßen mit ihr, vom Schicksal Robbers, des Hundes, der kein Vegetarier werden wollte, nicht zu reden. Ja, Wagner ist schon einen Schritt weiter. Hochmut sei das Vegetariertum, Sektiererei. »… unsere ganze Existenz sei ein Kompromiss, den man nur dadurch sühnen kann, daß man etwas Gutes zustandebringe«, notiert die Zeugin und Schriftführerin des Haustagebuchs Cosima die Worte ihres Mannes. Asketen sind schrecklich. Und wer etwas leisten wolle in unserem Klima, der brauche Fleisch. Also sprach der Genius. Und was macht der Esel? Er sieht alles ein. Ja, wer wäre einer solchen Form des Arguments zugänglicher als gerade er?
    Wie gut er gelernt hat, erfährt noch im September Freund und Baron Carl von Gersdorff, der Anstifter.
    Zwar hatte Nietzsche schon einmal in Leipzig, als vor beiden zwei riesige Coteletts mit Allerlei standen, den Mut gefunden, dem Freund zu erklären, dass das Vegetariertum nicht ohne innere Paradoxie zu denken sei. Doch nun, nach dem Abend bei Wagner, arbeitet es mächtig in ihm. Der Pflanzenköstler möchte kein Pflanzenköstler mehr sein. Wagner habe ihm mit kräftigster Ansprache alle die inneren Verkehrtheiten jener Theorie und Praxis vorgeführt. Das wichtigste für mich ist, daß hier wieder ein Stück jenes Optimismus zu greifen ist, der unter den wunderlichsten Formen, bald als Socialismus, bald als Totenverbrennung – statt herkömmlicher Bestattung –, bald als Pflanzenkostlehre … immer wieder auftaucht: als ob nämlich mit der Beseitigung einer sündhaft-unnatürlichen Erscheinung das Glück und die Harmonie hergestellt sei. 130
    Ja, er hat noch mehr gelernt, denn Gersdorff liest: Der Canon, den die Erfahrung auf diesem Gebiete giebt, ist der: geistig productive und gemüthlich intensive Naturen m ü

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