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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Nietzsche einmal zu seinem Hauptquartier des Südens erklären würde, oder über das Meer. Richard Wagner staunte sieben Tage lang, aß zu viel Speiseeis und beschloss, eine Meerfahrt zu unternehmen. Zur Aufregung über den Eindruck der See kam nun eine erhebliche Aufregung der Eingeweide, woran Eis und Meer gleichermaßen beteiligt waren.
    Weia, Waga! Es schaukelte innen, und es schaukelte außen, an Welthierarchie, überhaupt einfachste Ordnungen war nicht zu denken. Unten war oben und oben war unten. So kam der Meerfahrer schließlich in La Spezia an; »und im allererschöpftesten Zustande, kaum mich fortzuschleppen fähig, suchte ich in Spezia den besten Gasthof auf, welcher zu meinem Schrecken in einer engen, geräuschvollen Gasse lag. Nach einer in Fieber und Schlaflosigkeit verbrachten Nacht zwang ich mich des andren Tages zu weiten Fußwanderungen durch die hügelige, von Pinienwäldern bedeckte Umgegend. Alles erschien mir nackt und öde, und ich begriff nicht, was ich hier sollte. Am Nachmittag heimkehrend, streckte ich mich todmüde auf ein hartes Ruhebett aus, um die langersehnte Stunde des Schlafes zu erwarten. Sie erschien nicht; dafür versank ich in eine Art von somnambulem Zustand, in welchem ich plötzlich die Empfindung, als ob ich in ein stark fließendes Wasser versänke, erhielt. Das Rauschen desselben stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-Dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahin wogte; diese Brechungen zeigten sich als melodische Figurationen von zunehmender Bewegung, nie aber veränderte sich der reine Dreiklang von Es-Dur, welcher durch seine Andauer dem Elemente, darin ich versank, eine unendliche Bedeutung geben zu wollen schien. Mit der Empfindung, als ob die Wogen jetzt hoch über mich dahinbrausten, erwachte ich in jähem Schreck aus meinem Halbschlaf.« 124 Und Wagner eilte über die Alpen.
    An die Arbeit! Aber in Zürich erwartete ihn Minna, der Rhein versiegte wieder in seinem Kopf, dafür kaufte er einen neuen Papagei, der bald sprechen konnte. Er sagte: »Wagner ist ein böser Mann!« Das brachte ihm Minna bei. Noch bis Anfang November herrschte Ebbe im Hirn des Italienrückkehrers, doch dann kam die Flut.
    Das alles ist jetzt mehr als 16 Jahre her, kein unberufenes Ohr hat das »Rheingold« je gehört, schon gar nicht das ganze. Es ist das »Wiegenlied der Welt«, sagt Wagner zu Cosima. Und jetzt tritt da einfach ein König vor ihn hin – alle Könige sind Festlandskinder – und sagt: »Ich befehle das ›Rheingold‹!«
    Am 31. August 1869 präzisiert Ludwig das noch etwas, im höchsten Maße erbost über die »nichtswürdigen und ganz unverzeihlichen Intriguen von ›Wagner‹ und Consorten«: »Ich erteile hiermit den Befehl, daß die Vorstellung am Sonntag stattfinde. ›Richter‹ ist sogleich zu entlassen. Wagt W. sich neuerdings zu widersetzen, so ist ihm der Gehalt für immer zu entziehen, und nie wieder ein Werk von ihm auf der Münchner Bühne aufzuführen.« 125
    Am Morgen des 31. August eilt der Besprochene in höchster Erregung nach München und weiter nach Schloss Berg. »Ganz gegen meinen Willen«, sagt der König, sei Wagner in München eingetroffen. Er reitet in die Berge, auf den Hochkopf. Wagner reitet schlecht, er wird ihm nicht folgen können. Wagner reist wieder ab. Wotan reist auch ab.
    Wotan ist ein Vertragsgott, also gewissermaßen ein Gott des bürgerlichen Zeitalters: Was ich bin, bin ich durch Verträge. Das weiß natürlich auch der Wotan-Sänger Betz, seiner lief bis zum 31. August, also kann er jetzt gehen.
    Ohne Wotan und ohne Dirigent kein »Rheingold«. Das sieht sogar der König ein, aber selbst wenn er es nicht einsähe, wären Dirigent und Wotan immer noch weg. Dies sind die Grenzen des Königtums. Ludwig »gewährt« Aufschub. Der neu gewonnene Dirigent Franz Wüllner empfängt von Wagner zum Beginn seiner Tätigkeit folgende Zeilen der Ermutigung: »Hand weg von meiner Partitur! Das rat’ ich Ihnen, Herr; sonst soll Sie der Teufel holen! Taktieren Sie in Liedertafeln und Singevereinen, oder wenn Sie durchaus Opernpartituren handhaben wollen, so suchen Sie sich die von Ihrem Freunde Perfall aus.« 126 Perfall ist der Intendant, Pfi- und Pfo-Fraktion.
    Der »immer angenehme« Professor zieht aus alldem zur selben Zeit seine eigenen Schlüsse, Rohde wird am 3. September über die geistige Situation Tribschens so informiert: In letzter Zeit bin ich, kurz hintereinander, vier mal dort gewesen, und dazu

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