Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
gemacht hatte, als er sie noch komponierte. Übermut also, Zuversicht, ein unbestimmtes Gefühl des Zusammengehörens. Erstaunt war er dennoch, als die Baronin sich ohne zu zögern in die Schubkarre setzte. Vor Verwunderung verließ ihn jeder Mut; Bülow kam heran, holte sie ein und tadelte seine Frau.
Diesmal war keiner da zum Tadeln. Und sie saßen beide im selben Wagen. Sie werden die leichten Worte ausprobiert haben, nur ist, wer dabei abstürzt, dann umso schutzloser. Unmöglich, die Masken wieder aufzusetzen, und so erkannten sich zwei Verzweifelte: »Diesmal ging uns schweigend der Scherz aus: Wir blickten uns stumm in die Augen, und ein heftiges Verlangen nach eingestandener Wahrheit übermannte uns zu dem keiner Worte bedürfenden Bekenntnisse eines grenzenlosen Unglü ckes.« Und es folgt der Satz, der in allen Ausgaben von »Mein Leben« vor 1963 fehlte: »Unter Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören.« Die Meisterin war der Meinung, der Leser müsse nicht alles wissen und hat beherzt gestrichen.
In ihrem Tagebuch aber wird sie immer dieses Datums gedenken, so wie auch in diesem Jahr: »Sonntag 28ten November Heute vor 6 Jahren kam R. durch Berlin, und da fand es sich, daß wir uns liebten; damals glaubte ich, ich würde ihn niemals mehr sehen, wir wollten gemeinsam sterben.« 144
Zwei Sätze von der Liebe bis zum Tod? In der Oper brauchte Richard Wagner für diesen Übergang immerhin mehrere Stunden. Und wie stirbt man gemeinsam, wenn man sich niemals mehr wiedersieht?
Briefe des Unglücks gingen hin und her. Auch sie fielen der Bayreuther Selbstzensur zum Opfer. Ein Selbstmörderbund passt nicht ins Festspiel-Bild.
Liebe? Vielleicht ist das Wort an dieser Stelle zu ungenau, zu romantisch auch. Was ihre Maskenlosigkeit voreinander bedeuten konnte, wussten sie wohl beide nicht. Es war eine Solidaritätserklärung der Seelen, eine unbedingte Beistandsverpflichtung, ein Vorbehaltslosigkeitsdekret vor dem Novemberhorizont ihres Lebens.
Der Gedanke an ein eigenmächtiges Ende begleitete auch Cosima längst. Und sie wusste, dass er es wusste. Und er wusste auch, dass sie wusste, wie bodenlos allein er war, wie er an einem Tag gleich zwei Frauen verlor – die, die er liebte, und seine Ehefrau, Mathilde Wesendonck und Minna. Er ahnte, dass sie gewiss eine gute Daseinsabschlussbegleiterin sein könnte, selbst wenn sie eine gewisse Reserve gegenüber Doppelsuiziden besaß. Auch das wusste er.
Die jung verheiratete Frau, durch deren Gesicht hindurch er noch immer das Kind sah, das er kannte, hatte ihm einst nicht nur die Hände geküsst, als ihre Wege sich in der Schweiz kreuzten. Es war eine kurze Gemeinsamkeit gewesen, in der sie im Grunde nur Randfiguren füreinander waren, aber zum Abschied lag sie auf Knien vor ihm, und seine Hände wurden nicht nur nass von ihren Küssen, sondern auch von ihren Tränen. Und war ihm die junge Ehefrau nicht schon am Vortag durch eine gewisse, nur panisch zu nennende Zärtlichkeit für ihn aufgefallen? »Erstaunt und erschrocken« habe er dem Rätsel nachgeblickt.
Man muss nicht Richard Wagner sein, um hier nähere Information zu wünschen, und die Aufklärung war nicht weit, ja, sie stand direkt neben ihm. Sein Freund Karl Ritter war mit Cosima gerade aus Genf zurückgekehrt, wo sie ihre Schwester Blandine treffen wollte. Ritter musste etwas wissen.
Und Richard Wagner erfuhr: Wie Cosima plötzlich vor Karl gestanden habe, überlebensgroß, mit einer überlebensgroßen Forderung. Er solle sie töten, hier und jetzt. Wie der Beauftragte erbleicht sei. Ob er zögerte oder seine Antwort sofort kam, ist nicht mehr aufklärbar. Nur dass sie sehr anders ausgefallen war, als die Entschlossene hoffen durfte, ist gewiss. Umbringen, warum eigentlich nicht? Hier und jetzt, warum eigentlich nicht? Erst er sie, dann er sich. Zusammen oder gar nicht. Da lehnte Cosima ab, diese Verantwortung wollte sie nicht über nehmen. Schließlich schlug sie eine Bootsfahrt auf dem Genfer See vor.
Bootsfahrten sind eine gute Gelegenheit, sich zu ertränken. Und vom Wasser aus bietet sich genau die Perspektive, die ihr einzig wahrhaftig erschien: Da ist kein Land mehr, immer weiter weicht es zurück, sie wird es nie mehr erreichen. Also würde sie springen, schon aus Realitätssinn. Sie sprach die Absicht nicht aus, trotzdem legte ihr Begleiter kühl seine Absicht dar, im selben Augenblick auch zu springen. Gemeinsam untergehen oder gar nicht.
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