Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
München, wird längst gearbeitet. Aufführungsort: die Weltbühne. Dramaturgie und Regie: Otto von Bismarck.
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Wagner will Deutschland einen im Namen der Kunst, Bismarck will es im Namen Preußens, König Wilhelms und seines eigenen. Aber nicht nur in Bayern siegen immer wieder die Lokalpatrioten, und auch Ludwig hat eigentlich nur wenig Neigung, künftig einem Kaiser und einem Reich untertan zu sein. Ein König ohne Kaiser ist viel mehr König als ein König mit Kaiser. Ohne Reich aber werden die Nachbarn immer wieder auf die vielen kleinen Deutschländer herablächeln. Von innen, das hat Bismarck längst erkannt, ist dieses Reich nicht zu einen. Aber vielleicht von außen, heißt also: unter dem Druck von außen?
Bismarck hat das Stück sorgfältig vorbereitet: Der süddeutsche katholische Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen könnte sich um den gerade vakanten spanischen Thron bewerben. Das müsste Frankreich sehr bedrücken, dem das unaufhörlich erstarkende Preußen ohnehin starke Kopfschmerzen macht. Zwar wollte der süddeutsche, katholische Erbprinz ohne Ehrgeiz – vielleicht hatte auch er zu viel Schopenhauer gelesen – lieber nicht, und seine Familie auch nicht, ja, der vage Erbprinz hatte sich zwar von Bismarck überreden lassen, inzwischen von seiner Kandidatur aber schon wieder Abstand genommen, als der französische Zorn doch noch die von Bismarck erhoffte Höhe erreichte. Preußen von zwei Seiten, allein der Gedanke ist eine Frechheit! König Wilhelm möge doch eine Erklärung abgeben, dass er so etwas nie wieder anstiften, noch unterstützen, noch befürworten werde.
Der König aber weilt gerade in Bad Ems, Kurgäste brauchen Ruhe statt Aufregung, also übernahm Bismarck persönlich die Redaktion der königlichen Antwort, es wurde sinngemäß eine Preußen-macht-was-es-will-und-basta-Antwort, weshalb das französische Parlament am 15. Juli meinen wird, Preußen den Krieg erklären zu müssen.
Am frühesten Monatsbeginn liegt die Welt noch in Träumen. Vielleicht ist es nie stiller als vor einem Krieg. Auch wenn der Soundtrack zum Waffengang – der Walkürenritt – nun schon seit genau vier Tagen in der Welt ist. Und wie hatte Wagners Wotan es formuliert: »… wo kühn Kräfte sich regen / da rat’ ich offen zum Krieg!« Aber der Hausherr spürt nichts. Nichts regt sich. Aus Weimar trifft ein silberner Lorbeerkranz ein; der Erhöhte meldet am selben Tag nach Basel: »Auf Tribschen werden sehnlichst neue holländische Heringe verlangt.« 178 Das Kunstwerk der Zukunft hinge davon ab. Frische Fische, nicht solche, von deren Verzehr Friedrich Nietzsche einmal mit großem Zartgefühl gegen das Alter berichtet, es müsse sich um einen wahren Großvater Häring gehandelt haben. Fische für das Kunstwerk der Zukunft! Der Benachrichtigte spränge zweifelsohne sofort von der Philosophie der Zukunft auf, um sie zu holen – doch im Augenblick ist an springen nicht zu denken, nicht einmal an laufen. Der Fuß schmerzt noch immer.
Und wahrscheinlich würden die Fische ohnehin verderben, denn die Tribschener wollen den Pilatus besteigen, eher heute als morgen. Sie sind zu der Überzeugung gelangt, dass nur der Aufstieg einen rätselhaften Abstieg des Wohlbefindens der Hausherrin beenden kann. Dreimal wollten sie schon losgehen, aber am 2. Juli hat es geregnet, am 6. sagte der Arzt nein, dann ist Lulu unwohl, aber am 10. Juli 1870 verlässt doch eine kleine Karawane mit dem Freund Hans Richter, den Kindern, Trägern und Führer Tribschen in Richtung Pilatus. Es ist der dritte Tag des Kriegsgerüchts. Und auch Rom ist in großer Aufregung, und zwar im Dienste der Unterbindung aller künftigen Aufregung. In einer Zeit, in der jeden Tag eine alte Wahrheit stirbt, überlegt schon etwas länger der Papst, braucht es vor allem eins: Vertrauen. Verlässlichkeit. Ewigkeit. Der Papst möchte sich für unfehlbar erklären lassen. Leider müssen höchst Fehlbare über die Unfehlbarkeit befinden. Die Entscheidung wird in jedem Augenblick erwartet.
Cosima und Richard Wagner steigen auf. Wie wird die Welt aussehen, wenn sie wieder hinuntermüssen? Nietzsche, der im Baseler Bett Zurückgelassene, wird einmal nicht müde werden, den Aufstieg als Lebensform und das Hochgebirge als geistgemäßen Aufenthaltsort über allen menschlichen Dingen zu preisen. Cosima von Bülow und Richard Wagner geht es anders. Mehrere Tage lang versuchen sie vergeblich, auszuschlafen. Es ist zu voll hier oben, kein Mensch kann so
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