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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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in der Lage wäre. Einzig die Zeile von der Lawine Lust, mich zu verneinen sei ausgenommen und vorgemerkt für Späteres.
    Auch Tribschen ist im Juli ein Ort der Tränen. Als Richard Wagner träumt, dass ihm fast alle Zähne ausfallen, ist er noch sehr gefasst. Am 20. Juli glaubt er, vollkommen fremden Menschen sein Verhältnis zum König von Bayern erläutern zu müssen, erklärt ihnen, dass dieser nur seine »Person«, nicht aber seine »Tendenz« – Bayreuth – beschütze. Cosima hält solche Offenheit für falsch, ihr Mann zerreißt den Brief, »bereut es dann, so heftig geworden zu sein, und bricht in Thränen über den König aus, der alles gewusst, alles mitempfunden und ihn so preisgegeben. Nach allen Seiten hin habe er Wahrhaftigkeit sich erobert, einfach stehe er da, und mit dieser einen Lüge würde er zu Grabe gehen; er weint heftig. Ich bleibe bei ihm, verlasse ihn dann, um Kos’ Grube zu beaufsichtigen.« 245 Kos’ Grube? Nur tote Hunde legt man in Gruben, und noch weiß der Hausherr weder von einem toten Hund noch von der Grube. Es gelingt seiner Frau, beides bis zum nächsten Mittag vor ihm zu verbergen: »Wie ich mich nach Tisch zur Ruhe begebe, tritt R. zu mir herein, er hat soeben durch Loldi erfahren, daß Kos tot und begraben, er weint. Wie ich hinunterkomme, ist er ganz ergriffen noch.« 246 Am Abend registriert die Tagebuchschreiberin langes »bitterliches Weinen«; gemeinsam rekapitulieren sie das große Leben eines kleinen Pinschers, worin sie durch die Ankunft eines Amerikaners jäh unterbrochen werden.
    Doch die vielen Männertränen täuschen. Es ist ein gutes Jahr, für beide, und es wird immer besser.
    Friedrich Nietzsche reist nach Naumburg und Leipzig, wo sich zu seinem Geburtstag fast alle seine Freunde einfinden. Sie begründen eine neue Mysterienreligion, den Dämonenglauben. Es segne Dich der heilige Pythagoras, mich der heilige Fritzsch und uns alle das Ding an sich!, erfährt Rohde. Fritzsch ist Wagners Leipziger Verleger, der nun »Die Geburt der Tragödie« drucken soll, nachdem der andere sich geweigert hatte.
    Der Dämonenglaube ist eine gute Religion für weit auseinander lebende, schon wieder getrennte Freunde, denn er verlangt gemeinsame Dankopfer. Gersdorff in Berlin und Rohde in Kiel erfahren, dass sie am nächsten Montag Abend um 10 Uhr ein Glas dunklen rothen Weins erheben, die Worte »Chairete, daimones!«, »Seid gegrüßt, Dämonen!« zu sprechen haben, worauf sie die Hälfte in die schwarze Nacht hinausgiessen, die andere aber austrinken sollen. Zur festgelegten Stunde befindet sich der zurückgekehrte Professor bei dem großen Gelehrten Jakob Burckhardt. Aufmerksame Baseler können am fortgeschrittenen Abend des 21. Oktober zwei bedeutende Akademiker unter dem Ruf »Chairete, daimones!« reichlich zwei Biergläser guten Rhoneweines 247 auf die Straße schütten sehen, den Rest trinken sie aus. Schade um den Wein!, mag der Ältere denken; der Jüngere trinkt auf die Freunde, Richard Wagner und sich und ihre gemeinsame große Zukunft.
    Chairete, daimones!
    Und wirklich, die Gerufenen nehmen das Dankopfer an. Am 28. Oktober bekommt Friedrich Nietzsche eine Gehaltserhöhung. Und dann meldet sich auch der Leipziger Verleger. Er will das Buch drucken; sein Autor hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt. Vor allem aber: Friedrich Nietzsche komponiert. Er kann es wieder, den Dämonen sei dank!
    Sokrates, treibe Musik!, hat dessen Dämon dem Gewährsmann des abendländischen Verhängnisses zugerufen. Vergeblich, wie wir wissen. Auch der Verstand des Professors hat sich auf Kosten der Musik emanzipiert. Keine Noten, sagt er, seit sechs Jahren nicht mehr. Und plötzlich scheinen sie sich an ihn zu erinnern, er braucht sie nur noch aufzuschreiben. Er könnte das Werk Nachhall einer Sylvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz, Mitternachtsglocke, Punschbowle und Neujahrsgratulationen nennen, beschließt dann aber, die letzten beiden wegzulassen. Schon jetzt, Mitte November, weiß er, dass er das Werk Cosima Wagner zu Weihnachten schenken will, zu ihrem Weihnachtsgeburtstag, eigentlich wusste er es sofort. Bis dahin spielen sein neuer Hausgenosse, ein ungläubiger Professor für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte – kein anderer als Franz Overbeck – und er es vierhändig. Gut aufgeführt dauert es zwanzig Minuten. Richard Wagner teilt er mit, dass er inmitten eines ungeheuren Bücherhaufens sitze und eine Einführung in das Studium Platons

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