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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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»Parsifal«-Aufführungen statt. Überwältigender Erfolg. Überschuss: 140 000 Mark. Jetzt, wo er alt ist, macht Richard Wagner Gewinn statt Schulden. Aber was zählt das? Sie haben schon wieder eine Todesnachricht erhalten. Diesmal ist es Arthur de Gobineau, der Freund, der Erzkatholik und Denker der vollkommenen Ur-Rasse. Sie haben schon gestern von nichts anderem sprechen können als von diesem Sterben; abends spielte Wagner Siegfrieds Trauermusik.
    Eben, am Vormittag waren sie auf dem Markusplatz, meist stumm, irgendwann hatte Wagner zu seiner Frau gesagt: »Du kannst schweigen, daß ich an der Menschheit irre werden könnte.« Und jetzt schweigt sie schon wieder, nein, immer noch, denn auch mit den Kindern hatte sie über diesen Tod nicht reden können. Und nun hören sie einander zu in ihrer stummen Ruhelosigkeit, bis sie zu ihm kommt. Wahrscheinlich schweigend. Bis er sie fragt – mehr sich selber als sie –, »wo wohl Nietzsche sich aufhalte«. 456 Er hat wieder ein Buch geschrieben, das haben sie gehört. Es heißt »Die fröhliche Wissenschaft«.
    Schon der Titel ist für ihn gemacht, genauer: gegen ihn. »Die fröhliche Wissenschaft«! Die Wissenschaft, fröhlich? Dieser Autor denkt an ihn, in allem, was er sagt. Er will ihn verhöhnen. Er weiß genau, wie Richard Wagner die Wissenschaft verachtet, wo sie sich selbst feiert, sich selbst genügt. Er verachtet ihren Dünkel. Aber der Meister ist zu traurig, um sich zu ärgern, er fragt sich ein fach nur, wo der Mann, der einmal sein Freund war, jetzt sein mag .
    Noch ist er in Leipzig. Aber da wollte Friedrich Nietzsche schon längst nicht mehr sein. Eigentlich schon in Wien. Oder in Paris, gemeinsam mit der russischen Generalstochter und Rée. Aber die fahren nach Berlin. Er kann nur warten. Wo ist man, wenn man wartet? Nirgendwo.
    Im August, in Tautenburg hatte er sie zu seinem »Geschwistergehirn« ernannt, aber sie spürte den werbenden Mann und floh schließlich zurück zu Rée, der sich längst in die Rolle gefügt hatte, die sie Männern vorerst allein zugestand: in die Rolle eines Freundes, eines Bruders.
    Wo er ist? Er weiß es selbst nicht. Aber solange er hier ist, in Leipzig, ist er ein Sitzengelassener, das spürt er bald, er, der größte Philosoph des Äons.
    Am 7. November denkt Richard Wagner in Venedig darüber nach, wie sich am einfachsten und unwiderlegbarsten beweisen ließe, dass die Welt schlecht ist. Er weiß es bald: Weil »Menschen wie Nietzsche, die etwas versprechen, in ihr schlecht werden« 457 , und zwar so rasend schnell. Nietzsche in Leipzig vermerkt fast zur gleichen Zeit ein ähnliches Unbehagen des In-der-Welt-Seins: Ah, diese Melancholie! … Wie seicht sind mir heute die Menschen! Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch ertrinken kann! Ich meine ein Mensch. 458 Es sind Zeilen an Lou, vergebliche Zeilen.
    Wo Nietzsche wohl sein mag? Am 15. November flieht er zurück nach Italien, zurück nach Genua. Allein.
    Ab Mitte Dezember verlässt Richard Wagner öfter den Palazzo, ohne seiner Frau im mindesten mitzuteilen wozu. Sie bekommen Besuch vom Präsidenten des Städtischen Konservatoriums Graf Contin. Wozu? Die Kinder schweigen und lachen, lachen und schweigen; und sie gehen fast immer mit ihrem Vater.
    Am Heiligen Abend verlassen drei Gondeln den Palazzo Vendramin; sie fahren zum Teatro Fenice. Richard Wagner hat das alte, schöne Theater gemietet. Graf Contin gibt einen festlichen Empfang, und dann erklingt Richard Wagners Symphonie in C-Dur. Es ist Cosima Wagners 45. Geburtstag. Die Symphonie ist genau fünf Jahre älter.
    Friedrich Nietzsche schreibt am nächsten Morgen, an dem Tag, als er vor zwölf Jahren zum ersten Mal das Stück Musik hörte, das ihm immer das liebste auf Erden bleiben wird, an Franz Overbeck: Lieber Freund, … Dieser letzte Bissen Leben war der härteste, den ich bisher kaute und es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke. Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Erinnerungen dieses Sommers gelitten wie an einem Wahnsinn … Es ist ein Zwiespalt entgegengesetzter Affekte darin, dem ich nicht gewachsen bin. Das heißt: ich spanne alle Fasern meiner Selbst-Überwindung an – aber ich habe zu lange in der Einsamkeit gelebt … daß ich nun auch mehr als ein Anderer von dem Rade der eignen Affekte gerädert werde. Könnte ich nur schlafen! – aber die stärksten Dosen meiner Schlafmittel helfen mir eben so wenig als meine 6–8 Stunden Marschiren. Wenn ich nicht das

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