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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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hysterische Kranke« geheilt werden könnten, gibt der Arzt zu. Aber nicht Nietzsche, nicht bei einer so weit fortgeschrittenen Zerstörung des Augenhintergrunds. Ja, der Arzt geht so weit, den Glauben des Meisters an den Zusammenhang von Onanie und schwindendem Augenlicht mit aller gebotenen Ehrfurcht zu erschüttern: »Onanie, wenn dieselbe wirklich vorliegt, kann als Ursache hier nur im weiteren Sinne aufzufassen sein, – so etwa, daß onanistisch Geschwächte allzeit weniger widerstandsfähig sind, und, wie jeder Erschöpfte, allen Ermüdungs- und Reizzuständen aller Erkrankung leichter anheimfallen.« Aber darf der Gründer des Frankfurter Wagner-Vereins den Schöpfer des »Ring des Nibelungen« derart belehren?
    Klingt er gar besserwisserisch? Nichts liegt ihm ferner, und um sich der Ansprache des Meisters würdig zu erweisen, beantwortet er Vertrauen mit Vertrauen. Oder sollte man sagen: Er wird auf bedenklichste Weise indiskret? Das Haus Wahnfried erfährt nun von den intimsten Verhältnissen Nietzsches. Natürlich hat er sich dem Arzt gegenüber offenbart. Denn wenn der so gründlich untersucht, wie er noch nie untersucht wurde, dann muss er so gründlich reden, wie er noch nie geredet hat. Und in einer Direktheit, vor der sein Naturell instinktiv zurückscheut: Syphilitische Ansteckung nein, Tripper ja. Keine sexuellen Abnormitäten. Kontakt zu italienischen Straßenhuren auf Anraten seines italienischen Arztes. Aber geben wir dem indiskreten Mediziner selbst das Wort: »Bei Erörterung seiner geschlechtlichen Zustände versicherte mir N. nicht nur, daß er nie syphilitisch gewesen sei, sondern er hat auch meine Frage nach starker geschlechtlicher Erregung und etwaiger abnormer Befriedigung derselben verneint. Doch wurde der letzte Punkt von mir nur flüchtig berührt und ich darf deshalb N.’s Worten nach dieser Seite nicht allzu viel Gewicht beilegen.« Andererseits würden sie beglaubigt durch verschiedene »Tripper-Ansteckungen während seiner Studentenzeit«, von denen der Kranke freimütig berichtet habe, sowie durch die einschlägigen italienischen Vorfälle des vergangenen Jahres. »Auf ärztliches Anraten«, formuliert Eiser, habe sein Patient in Italien »mehrmals den Coitus ausgeübt.«
    Im Bewusstsein, dem besorgten Komponisten wahrhaft frohe oder doch zumindest zuversichtlich stimmende Botschaften zu überbringen, geht Eiser zu der vertraulichen Formel »unser Patient« über, denn was ist ein Erlöser anderes als ein Arzt, dessen Fähigkeit zu heilen, universell geworden ist? Bewiesen sei also, »daß unserem Patienten die Fähigkeit zu normaler Befriedigung des Geschlechtstriebs nicht fehlt.« Und das sei nun »bei Onanisten seines Alters zwar nicht undenkbar, aber doch wohl nicht das Gewöhnliche«.
    Eiser solle allen Einfluss geltend machen, den ein Arzt auf die Lebensgestaltung seines Patienten nur ausüben könne, fordert Richard Wagner.
    Diskretion ist etwas fürs Personal.
    Richard Wagner kann sich sein Leben nicht vorstellen ohne Frauen, ohne ihre Liebe. Was ihn gesund macht, muss auch Nietzsche gesund machen. Er schreibt in diesem Herbst schließlich nicht nur an Ärzte. Vor allem schreibt er an Judith, an die schöne Judith, Gautiers Tochter, genannt »der Orkan«.
    1. Oktober: »Und wann werde ich Sie wiedersehen? So schlimm waren Sie, meine Einladung nach London nicht anzunehmen! Und aus welchem Grunde? Gut! Den kenn’ ich!« – wahrscheinlich ist es der unbegabte Musiker, mit dem sie lebt – »Ach, ist das schlimm! Jetzt – wann – wie? Mag es sein! Lieben Sie mich und warten wir da nicht auf das protestantische Himmelreich: es wird schrecklich langweilig sein! Liebe! Liebe! Lieben Sie mich, immerdar!« 396 9. November: »Ach, ich mache Musik, ich pfeife aufs ganze Leben auf alle Welt. Ich fühle mich geliebt und ich liebe!« 15. November: »Warten wir aufs Telephon!«
    Er wünscht sich eine Decke von ihr, »eine wunderschöne, ganz unerhörte Decke, die ich ›Judith‹ nennen werde. Hören Sie! Trachten Sie mir so einen Seidenstoff zu finden, den man ›Lampas‹ nennt oder – wie nur? Grund gelber Satin – so blaß als möglich – bestreut mit Gewinden von Blüten – Rosen: das Muster nicht zu groß, denn es ist ja nicht für Vorhänge … Gibt es kein Gelb, dann ein sehr lichtes Blau .« 397 Und auf »Judith«, seiner Decke, gedenke er fortan zu liegen, vor allem an den »Parsifal«-Vormittagen. Ja, er liebt wieder. Schon in Bayreuth hat das angefangen. »Weiß Du,

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