Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihm glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der richtigen Stelle stehen, diess zu sehen: es muß gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Diess Alles kommt aber so selten gleichzeitig zusammen … Müsste sein bester Leser nicht wissen, woran der Autor denkt, an welche Erfahrungen? … Ich will sagen, daß die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist dies der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib! 466 Die Sache müsste Richard Wagner unbedingt interessieren, denn er arbeitet gerade an einem größeren Essay über das Weibliche und die Richtung, in die es uns zieht.
Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden, beginnt ein anderer Aphorismus, es ist der 279te. Undenkbar, dass er nicht weitergelesen hätte: Aber das ist recht so und wir wollen’s uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder, – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! Es giebt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Curve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Strassen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen; – erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu kurz und unsere Sehkraft zu gering, als daß wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben , selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten. 467
Könnte Richard Wagner nein sagen? Ja, müsste er nicht wie früher auf der Stelle ein Telegramm schicken: So sei es! Ihr R. W. –?
Eine Woche nach seinem Aschermittwochs-Besuch auf San Michele, der Friedhofsinsel von Venedig, ist Richard Wagner tot. »Meine Uhr!«, war sein letztes Wort. Sie drohte dem Diener, der ihn entkleidete, herunterzufallen.
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Friedrich Nietzsche läuft durch Genua, unterm Arm einen nicht allzu dicken Stoß Papiere. Er will zur Post. Was er da hat, wie soll er es nennen? Es handelt sich um ein kleines Werk (kaum hundert Druckseiten), dessen Titel ist
Also sprach Zarathustra.
Ein Buch für Alle und Keinen.
Und für Richard Wagner natürlich, hätte er hinzufügen können, ja eigentlich ist es vor allem ein Buch für Richard Wagner, aber er vertraut in den Dingen des höheren Adressatentums noch immer uneingeschränkt der Intelligenz des Meisters. Es ist, erklärt er seinem Verleger weiter, eine »Dichtung«, oder ein fünftes »Evangelium« oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt: bei weitem das Ernsteste und auch Heiterste meiner Erzeugnisse, und für Jedermann zugänglich. 468
Der akut selbstmordgefährdete Philosoph hatte es geschafft. Er hatte auch aus diesem – Kothe Gold gemacht, nein sagen wir es weniger tellurisch, mehr solarisch: Er hat sich den offenen Himmel geschaffen, den er so braucht. Er wurde hineingerissen in einen Schaffensrausch ohnegleichen. Er bringt den »Zarathustra« zur Post, dieses Kultbuch von Generationen, das schließlich neben Hitlers »Mein Kampf« und Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« im Tannenbergdenkmal niedergelegt werden wird. Auch Bücher haben Schicksale, es hätte ihn nicht gewundert. Oder doch, es hätte ihn gewundert, es ist zu absurd, aber nichts schützt vor geistigem Missbrauch, er weiß es.
Mit Lou
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