Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
nicht eine einzelne, sondern gleich einen ganzen Schwarm. Typisch Wagner, würde Nietzsche wohl sagen, wäre er Mitwisser dieses Traums. Aber das ist es eben: ein Traum, mit der typischen Logik des Traumes. Auch der schlafende Richard Wagner wundert sich durchaus über die Anzahl der Vögel, als ihm der ganzkörperbleiche Philosoph erklärt, dass er den Schwarm schon kenne. Sofort scheint Richard Wagner alles ganz plausibel. Ein heiterer Philosoph mit einer Nachtigallenherde, nur etwas zu weiß. Ein heiterer Träumer. Und als er aufwacht und Cosima von seiner nächtlichen Gesellschaft erzählt, ist er immer noch froh. Doch das währt nicht lang, denn dann fällt ihm wieder Friedrich Nietzsche ein. Er erinnert sich an eine frühere Fotografie, die ihnen beiden missfiel. Sie hätten es damals gleich auf dem Bild erkennen müssen: Er ist ein Geck, nichts weiter. Friedrich Nietzsche: ein Nichts. Schluss. Punkt. Aus.
Richard Wagner geht nicht aus wegen des Sciroccos. Gegen Abend kommt Hermann Levi, der Dirigent der »Parsifal«-Uraufführung. Es war einiges zusammengekommen, ihn dazu zu machen – und ein letztes Mal sei hier der untergründigen Verwandtschaft der Wahrnehmungen Ludwigs und Nietzsches gedacht –, denn nicht zuletzt war es ein Brief des Königs: »Daß Sie, geliebter Freund, keinen Unterschied zwischen Christen und Juden bei der Aufführung Ihres großen, heiligen Werkes machen, ist sehr gut; nichts ist widerlicher, unerquicklicher, als solche Streitigkeiten; die Menschen sind ja im Grunde doch alle Brüder, trotz der confessionellen Unterschiede.« 463 Ludwig weiß das nicht zuletzt aus seiner Musik. Und aus »Staat und Religion«.
Levi kommt gegen 16 Uhr. Nietzsche? Der Nietzsche, der ihm soeben einen »jungen Mozart« empfohlen habe? Bülow wollte nicht, aber Levi hat sich Heinrich Köselitz’ »Scherz, List und Rache« angeschaut: Ein Nichtskönner, lautet der Befund des sonst doch so zurückhaltenden Kapellmeisters. Sie lachen. Der fatale Schelm kann selbst keine Musik machen, und er versteht nichts von der Musik anderer. Was, fragt man sich im Palazzo Vendramin, wäre dem noch hinzuzufügen? Vielleicht, dass er Richard Wagner liebt – liebte also. Doch wie soll dieser das interpretieren, schon hinsichtlich seines eigenen Stellenwertes, soll er überhaupt?
Es ist doch schade, dass Richard Wagner nur den Aufsatz über Nietzsches Buch, nicht dieses selbst lesen kann. Es würde ihm sagen, dass ein Mensch, der so viel über das Musik-Hören weiß, kein ganz Falschhörender sein kann: Man muss lieben lernen . – So geht es uns in der Musik: erst muß man eine Figur und Weise überhaupt hören lernen , heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isoliren und abgrenzen; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu ertragen , trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: – endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer gewohnt sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, daß sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demüthigen und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. 464 Aber Richard Wagner kann nicht lesen. Er kommt zu dem etwas leichtfertigen Schluss, dass Nietzsche »gar keinen eigenen Gedanken« gehabt habe, kein »eigenes Blut« 465 . Ein Vam pir. Sie spielen »Harlekin, du musst sterben«. Der Karneval liegt in der Luft.
Am nächsten Morgen denkt Richard Wagner trotzdem wieder an Friedrich Nietzsche. Gut, dass die Fastnacht beginnt. Die Kinder würden ihm nicht verzeihen, wenn er nicht mitkommt, also kommt er. Er sieht den Trauerzug des Prinzen Karneval nahen, von der Riva führt er nach San Marco. Dort muss der Prinz zwischen den beiden Säulen den Flammentod sterben, augenblicklich verlöschen alle Lichter. Dann nur noch die Glocken des Campanile. Es ist schön.
Aschermittwoch fahren sie nach San Michele, aber Richard Wagner gefällt es nicht auf der Friedhofsinsel, er hat sich bei der Beerdigung des Prinzen Karneval erkältet, sagt er, er muss liegen. Er hätte Zeit, in der »Fröhlichen Wissenschaft« zu lesen.
Wäre das Buch da, er würde es zur Hand nehmen. Es ist eine alte Gewohnheit.
Er könnte jenen Aphorismus lesen, der beginnt: Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller gute Wille nicht aus; es bedarf der
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