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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Alchimisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem – Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren. 459
    Er ist allein in einem kleinen unheizbaren Zimmer im »Hotel Poste« in Rapallo an der Ligurischen Küste. Er ist der einzige Gast.
    Er ist jenseits von Tribschen.
    *
    »Widerwärtig«! 460 , lautet der Befund. Der ganze Mensch, widerwärtig. Richard Wagner liest einen Artikel in Schmeitzners Monatsheften. Er handelt von Friedrich Nietzsches neuem Buch. Alles, was Wert hat, ist von Schopenhauer, sagt er zu Cosima. Und von mir, könnte er hinzufügen. Er ist schon wieder erregt. Dabei bleibt er manchmal auf seinem Zimmer und will niemanden sehen, nur um sich nicht aufzuregen. Es ist nicht gut für sein Herz. Die »Brustkrämpfe« kommen wieder. Und außerdem weht der Scirocco, seit zwei Tagen schon. Es ist der 3. Februar 1883. Der Scirocco und Nietzsche sind nicht gut für sein Herz.
    Schade, dass er das Buch selbst nicht lesen kann, er hätte einen merkwürdigen Aphorismus darin gefunden: Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich rührenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick Etwas »aus dem Nichts« entstehen kann; er schöpft am glücklichsten von Allen aus dem unteren Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die herbsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit den süssesten zusammengelaufen sind; er kennt jenes müde Sichschieben der Seele, die nicht mehr springen und fliegen, ja nicht mehr gehen kann; er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als der Orpheus allen heimlichen Elends ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst unwürdig schien, und mit Worten namentlich nur zu verscheuchen, nicht zu fassen war, – manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele; ja, er ist der Meister des ganz Kleinen. 461
    Kann einer, der ihn so erkennt, noch Gegner sein? Kommen Kategorien wie Freund oder Feind hier überhaupt in Betracht? Und welcher seiner Freunde hätte das so wahrnehmen können und – selbst wenn – es auch so aussprechen können? Alles im Älteren müsste dem Jüngeren entgegenkommen. Aber er liest nicht, er kann es nicht. Also kann er den vorbeugenden Argwohn nicht verlieren. Also kann ihn auch der nächste Satz nicht treffen, bei womöglich schon abgelegter seelischer Rüstung: Aber er will es nicht sein. Richard Wagner besitze einen eitlen, dummen Hang zum Monumentalen.
    Mein Gott, er, Richard Wagner, komponiert Opern. Die besitzen nun mal einen Hang zum Monumentalen. Jede Tragödie von Anbeginn ist so organisiert – wer weiß das besser als dieser unmögliche Autor? Und braucht nicht auch das Kleine, das Mikroskopische erst den Kontrastgrund, vor dem es sich abheben kann? – Ja, es ist Gift darin. Jeder zweite Satz ist kontaminiert, noch immer. Es ist ein grausames Spiel, sie verstehen sich beide darauf, aber er, Richard Wagner ist jetzt nicht gesund genug, es zu spielen. Es ist das Herz, immer wieder. Kürzlich erst war er zum Markusplatz gegangen, hatte schon von Weitem seinen »Lohengrin« gehört, war schneller gelaufen, da krampfte sich ihm das Herz zusammen. Mit äußerster Not und nun ganz langsamen Schritts, bei dem er sich das Aussehen eines Flaneurs zu geben zu suchte, schaffte er es in sein Lieblingscafé, rang nach Luft. Vielleicht ist es doch gut, dass er »Die fröhliche Wissenschaft« nicht lesen kann. Es gibt die Regionen, in denen sie ganz allein sind, in die die anderen nicht mehr folgen können.
    Er sucht sich andere Gesellschaft für die Nacht. Er träumt von Arthur Schopenhauer. Sie treffen sich, reden und lachen. So heiter wie in seinem Traum hat er Schopenhauer nie erlebt. Der Philosoph ist vollkommen weiß, aber das stört Richard Wagner nicht, im Gegenteil, der Mann habe Witz: »nein, wer solle sich denken, daß das dieser große Philosoph sei« 462 . Der weiße Schopenhauer zeigt Wagner einen Schwarm Nachtigallen,

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