Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
wie das wird?« Er weiß es nicht, er ist keine Nonne, und es ist ihm auch egal. Es wird schon werden. Seine Rechtfertigung ist der »Parsifal«. Für Friedrich Nietzsche wird es das Werk sein, mit dem Wagner zu Kreuze kriecht. Wenn der wüsste, wohin er kriecht. Er ist Klingsor, er ist der alte Zauberer, und Judith ist Kundry. Er liebt Judith Gautier!
Wie schief ihn der Professor in Sorrent angeschaut hat, als er vom Abendmahl sprach. Friedrich Nietzsche wird sogar einmal ein Gedicht darüber machen:
An Richard Wagner
Der du an jeder Fessel krankst,
Friedloser, frei-dürstger Geist,
Siegreicher stets und doch gebundener,
Verekelt mehr und mehr, zerschundener,
Bis du aus jedem Balsam Gift dir trankst –
Weh! Daß auch du am Kreuze niedersankst
Auch du – ein Überwundener!
… 398
Überwunden von wem? Er hat Judith die Abendmahlsmusik geschickt: »Nehmet hin meinen Leib …«. Das sind seine Mysterien.
Und Cosima? Natürlich, er liebt sie, er hat nie aufgehört, sie zu lieben. Es hat sich nichts zwischen ihnen geändert. Es ist nur etwas hinzugekommen, gewissermaßen. Und könnte man so mit Cosima über Abendmahle sprechen? Sie ist eine Büßerin, eine werdende Heilige. Er hat ihr schon öfter gesagt, dass er keine Heiligen im Haus erträgt, das sieht sie auch ein und ist deshalb noch immer eine sehr unvollkommene Heilige. Büßerinnen liebt man anders, ganz anders zärtlich. Nein, er nimmt ihr nichts weg. Und Judith – von Catulle Mendès ist sie längst geschieden – käme nicht einmal auf die Idee, diesen unbegabten Musiker, mit dem sie zusammen ist, für ihn zu verlassen. Er würde es nicht einmal wollen. So witzig hat er noch nie geliebt – witzig, weil entsagungsvoll. Ja, ihn interessieren diese Leute plötzlich, die so viel über Entsagung wissen. Und außerdem bekommt Cosima am Ende seiner Oper recht.
Aber vorher will er auskosten, was da hinzukam. Wenn er den Freund nur in seinen Zaubergarten führen könnte, auch er würde dort gesund werden. Er hat das schon lange nicht mehr so sicher gewusst wie in diesem Herbst 1877 und, nun ja, im letzten auch schon.
Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum, wird Friedrich Nietzsche sagen. Es ist nicht so, dass Richard Wagner nichts von Musik hielte, aber er müsste da doch eine Korrektur, zumindest eine Ergänzung vorschlagen: Ohne Frauen ist das Leben ein Irrtum!
Nein, Wagners Unterleibskonspirantentum ist nicht Denunziation, nicht Bosheit. Doch eine Sorge schwingt mit: Sollte er, ausgerechnet er, eine ganze Generation von Eunuchen zeugen? Es ist ihm unangenehm.
Die nicht unwichtige Frage lautet: Wann erfährt Nietzsche von Wagners Diagnose?
Sekten – und bei den Wagnerianern handelt es sich um den Spezialfall einer Sekte – sind in erster Linie Kommunikationsgemeinschaften. Kurz gesagt: Was einer weiß, wissen – tendenziell – alle. Mitunter ist dieser Vorteil ein großer Nachteil. Auch ist die Nachricht zu spektakulär, um sie auf die Dauer vor der Welt zu verschließen. Friedrich Nietzsche, der begabteste noch lebende Onanist Bayreuths?
Natürlich erreicht die Auskunft auch den, den sie am meisten angeht. Dass es geschieht, ist sicher. Es lässt sich jedoch nicht mehr mit Sicherheit aufklären, wann. Am wahrscheinlichsten sind die Wochen unmittelbar nach Wagners Tod. Erst dann zumindest lässt Nietzsche andere wissen, dass er weiß, was jene wissen oder zumindest wissen könnten. Er wird von einer tödtlichen Beleidigung sprechen.
Dass diese schon jetzt Mitautorin des Buches ist, das er gerade schreibt, ist unwahrscheinlich. Und doch holt der einschlägig Beleumundete bereits zum ersten empfindlichen Schlag gegen Richard Wagner aus. Und gegen sich?
DRITTER AUFZUG:
DER HINTERBLIEBENE
Ich verstehe es vollkommen, wenn
heute ein Musiker sagt »ich hasse Wagner,
aber ich halte keine andre Musik mehr aus«.
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner
Richard Wagner und Familie auf der Gartentreppe von Haus Wahnfried 1881. Vordere Reihe v. l.: Isolde Wagner und Daniela von Bülow, Eva und Siegfried Wagner.
Hintere Reihe v. l.: Blandine von Bülow, Heinrich von Stein, Cosima und Richard Wagner, Paul von Joukowsky.
Tod in Venedig. Auferstehung in Genua
Er geht in seinem Zimmer auf und ab, einem von fünfzehn Zimmern in seinem Flügel des Palazzo Vendramin. Cosima geht in ihrem Zimmer auf und ab, sie hören einander. Es ist der 26. Oktober 1882.
Seit Mitte September sind sie in Venedig; am 29. August fand die letzte von sechzehn
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