Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Welt gelegen, für den Richard Wagner sich nicht zuständig fühlt, ist ihm selbst noch unentdeckt und wird es bleiben. Auftritt Richard Wagner, der Diagnostiker, der Medizinmann.
Muss einer nicht krank werden, wenn er so lebt wie Nietzsche? So, nun ja – enthaltsam eben? Oder auf zu missbilligende Weise nicht ganz enthaltsam? Schon die Alten wussten vom freien Fluss der Säfte als Grundbedingung jeder Gesundheit. Noch immer erscheinen Ratgeber, die Titel tragen wie »Warum bist Du nicht glücklich? Eine Frage an alle Gebundenen, insbesondere die Sclaven der Onanie oder Selbstbefleckung«. Der Autor ist Hermann Hesses Großvater Johannes Hesse.
Seltsamerweise kommen nicht einmal mehr die Ärzte auf diese elementarste Ursache, was vielleicht daran liegt, dass sie neuerdings nebenberuflich Wagner-Vereine gründen und großangelegte Deutungen des »Rings des Nibelungen« verfassen unter be sonderer Berücksichtigung der Frage, wo Wotan sein Auge verlor.
Gut, dass Nietzsches Arzt Begründer des Frankfurter Wagner-Vereins ist. Denn wer sich in der privilegierten Position befindet, selbst Richard Wagner zu sein, besitzt da gewisse Einflussmöglichkeiten und schließt notfalls auch Münder auf, die das ärztliche Schweigegebot gemeinhin fest verschlossen hält.
Richard Wagner am 23. Oktober 1877 an Nietzsches Arzt Otto Eiser, Gründer der Frankfurter Wagner-Ortsgruppe: »In der verhängnisvollen Frage, welche die Gesundheit unseres Freundes Nietzsche betrifft, drängt es mich nun, mit aller Kürze und Entschiedenheit Ihnen meine Ansicht, meine Befürchtung – aber auch meine Hoffnung mitzuteilen. Ich trage mich, für die Beurteilung des Zustandes N.’s, seit langem mit den Erinnerungen von gleichen und sehr ähnlichen Erfahrungen, welche ich an jungen Männern von großer Geistesbegabung machte.« 395 So weit die Ouvertüre. Jetzt aber öffnet sich der Vorhang, so jäh, wie sich selten einer öffnete, und die Bühne liegt in gleißendem Licht: »Diese« – die nämlichen jungen Männer von einschlägiger Begabung – »sah ich an ähnlichen Symptomen zugrunde gehen und erfuhr nur zu bestimmt, daß Folgen von Onanie vorlagen.« Vorhang zu. Ende. Ein Drama in einem Satz, wenn man voraussetzt, dass mitunter schon ein in die Welt gesetztes Wort diesen Tatbestand erfüllt.
Natürlich muss Richard Wagner dem Arzt seine Diagnose noch ein wenig beglaubigen, und vielleicht irritiert ihn schon länger, dass er – oder doch zumindest seine Musik – so anziehend auf heiratsunwillige junge Männer wirkt. Da wäre zum Beispiel der König von Bayern, der seine schon eingegangene Verlobung wieder aufkündigte – aber nein, ein König ist ein schlechtes Beispiel, und eigentlich kann Ludwig noch immer gut sehen, also konfrontiert Wagner den zu leitenden Arzt mit dem traurigen Schicksal kurzsichtiger Onanisten, etwa eines jungen Dichters, der, bevor er in Leipzig starb, »im Alter Nietzsches vollständig er blindete«, und eines weiteren Freundes, der »im gleichen Alter in die schmerzhaftesten Augenleiden verfiel« und noch heute »mit jammervoll zerrütteten Nerven« in Italien dahinsieche. Bei Ersterem handelte es sich um Theodor Apel, der jedoch bei einem Reitunfall erblindete; bei Letzterem um Karl Ritter, der Cosima einst am Genfer See daran hinderte, sich zu ertränken, und der gegen die Kennzeichnung seiner gegenwärtigen italienischen Existenzform Einspruch erheben dürfte.
Richard Wagner fasst zusammen: »Seitdem ich N., von jenen Erfahrungen geleitet, näher beobachtete, ist an allen seinen Temperamentszügen und charakteristischen Gewohnheiten meine Befürchtung zu einer Überzeugung geworden.« So weit die Diagnose des Meisters, der nun zur allein angezeigten Therapie übergeht: Alles komme darauf an, »die Nerven, das Rückenmark zu stärken«. Es müsste »etwas Energisches« geschehen. Der Arzt möge seinem Patienten nur in diesem Sinne raten.
Was Richard Wagner nicht bedachte, war, wie sehr das Bewusstsein, Gegenstand solcher Unterleibs-Erörterungen zu sein, die Nerven ruinieren muss, statt sie zu stärken. Wie viel Rückgrat – nicht Rückenmark – dazugehören würde, in diesem Bewusstsein zu leben – sollte der Besprochene je davon erfahren. Und die Gefahr wächst.
Denn nun sieht sich auch der Arzt zu schriftlicher Erörterung des Falles N. aufgerufen, die Korrespondenz wiederum wird im Haus Wahnfried sorgfältig archiviert. Es sei wohl möglich, »daß nervös irritierte, durch Onanie geschwächte,
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