Night Academy 2
englisches Schloss. In den Klassenräumen war überall Linoleum verlegt, doch hier in der Bibliothek lagen dicke Perserteppiche. Außerdem war sie mit richtigen Lampen bestückt, lange Tische wechselten sich mit Einzelkabinen ab, in denen man ungestört lernen konnte.
Ich schlängelte mich durch die Regale, bis ich am Ende der Bibliothek in einen winzigen Raum gelangte. Das Magazin sollte absichtlich wenig einladend wirken, hier befanden sich nur eine Handvoll Einzelkabinen und alte, verstaubte Wälzer. Cam erschien kurz nach mir, den Rucksack trug er über den Schultern, die in dem dunkelblauen Hemd noch breiter schienen als sonst.
»Wie war deine erste Stunde?«, fragte Cam. Er nahm den Rucksack ab und glitt neben mir auf einen Stuhl. »Hat es dir Spaß gemacht?«
»Spaß ist zu viel gesagt.« Ich erzählte ihm, was Mr Fritz mit mir veranstaltet hatte. Erst da begriff ich, wie enttäuscht ich eigentlich von mir selbst war. Mir kam es vor, als hätte nicht Mr Fritz, sondern mein eigener Verstand mir einen Streich gespielt.
»Ich konnte nicht einmal einen Stift bewegen, nur weil Mr Fritz mir diesen Blödsinn erzählt hat.«
Cam lachte. »Mr Fritz hat schon so viele Schüler hinters Licht geführt, darin hat er viel Erfahrung. Auch wenn du deine Gabe schon seit Jahren verwendest, hast du immer noch eine Menge zu lernen. Dafür ist die Ausbildung ja da.«
Zweifelnd schüttelte ich den Kopf. »Vielleicht. Aber ich fühle mich trotzdem mies.«
»Falls dir das hilft: Mit mir hat er es auch gemacht. In einem Moment habe ich noch die Begabungen aller Anwesenden gespürt und im nächsten nichts mehr, als wäre die Luft um mich herum tot. Und alles hat sich nur in meinem Kopf abgespielt.«
»Das hört sich ja fast noch schlimmer an als bei mir.« Ich legte den Kopf schief. »Wann ist dir eigentlich bewusst geworden, dass du Begabungen erkennen kannst?«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »In der vierten Klasse fing ich an, Farben und Muster um bestimmte Leute herum zu sehen. Als ich meinem Vater davon erzählte, sagte er, nur Kranke sähen solche Sachen. Ich habe mir dann einzureden versucht, die Farben und Muster wären gar nicht da, aber sie verschwanden nicht. Doch ich habe mich nicht mehr getraut, mit meinem Vater darüber zu sprechen, aus Angst, er würde mich ins Krankenhaus stecken.«
»Das ist aber eine ziemliche Last für ein Kind«, sagte ich leise.
»Na ja, schön war das nicht. Ich habe alles getan, damit mich mein Vater für normal hält. Habe mit Sport angefangen und richtig hart trainiert, habe viele Freundschaften geschlossen und bin allen möglichen Vereinen beigetreten. Ich war wohl das durchschnittlichste, angepassteste Kind überhaupt. Und es hat funktioniert. Irgendwann hat mein Vater die Sache dann vergessen.«
»Wie ist die Night Academy auf dich aufmerksam geworden?«
»Die Night Academy sieht sich ständig in Schulen um. Dabei richten sie ihr Augenmerk nicht nur auf Kinder, die besonders aus der Reihe fallen, sondern auch auf die, die möglichst unauffällig bleiben wollen. Mitunter mischen sie sich auch einfach als Vertretungslehrer, Eltern oder Verwandte unter die Schüler. Der Anwerber in meiner Schule konnte sich unsichtbar machen. Er ging einfach ins Sekretariat, sah sich alle Unterlagen an und beobachtete tagelang die Schüler. Obwohl er unsichtbar war, pulsierte das Muster, das ich bei ihm sah, wie ein Neonschild über seinem Kopf. Schließlich fiel ihm auf, dass ich ihn mit den Augen verfolgte, und da hat er es dann gewusst. Er rief Mr Judan an, und dem habe ich alles gestanden.«
Damals, als Cam und Mr Judan zu mir nach Hause gekommen waren, hatte ich viel zu viel Angst gehabt, meine Fähigkeiten einzugestehen. »Hat er dich … ähm … überredet?«
Cam schüttelte den Kopf. »Das brauchte er gar nicht. Nach all den Jahren war ich froh, es endlich jemandem erzählen zu können, der mich nicht gleich für verrückt erklärte. Mr Judan sagte, ich hätte eine besondere Gabe, und er würde mir gern helfen, sie zu nutzen. Dazu bedurfte es keiner Überredungskünste. Dann hat Mr Judan meinem Vater ein Stipendium für mich angeboten, mit dem ich schon früher als üblich auf der Highschool anfangen konnte. Noch im selben Sommer bin ich auf die Night Academy gewechselt, und im Herbst habe ich mit dem Unterricht angefangen.«
»Das wusste ich alles gar nicht.«
Er beugte sich vor und sah mir tief in die Augen. »Deshalb wusste ich ja auch, wie du dich bei unserer ersten
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