Night Academy 2
in ihn verliebt hatte.
Beim ersten Mal hatte ich mich in sein Aussehen und seine starke Persönlichkeit verliebt. Doch diesen Sonntag war mir klar geworden, dass meine Liebe auch seiner empfindsamen Seele galt.
Allerdings interessierte sich Esther in diesem Moment nicht besonders für Cams Seele.
Es klingelte, und Esther hakte sich bei einem Jungen unter. »Wir sollten lieber zum Unterricht.« Sie schritt davon, kam dann aber noch einmal zurück und flüsterte mir ins Ohr: »Ich halte Ausschau nach Trevor. Sag Bescheid, wenn du ihn siehst!«
Bestürzt sah ich ihr nach. Und zum ersten Mal kam es mir in den Sinn, dass vielleicht Trevor derjenige war, der Schutz brauchte.
Die ersten Besucher kamen schon am frühen Dienstagmorgen, der Rest trudelte im Laufe des Tages ein. Manche kamen allein, andere zu zweit, sie trugen Anzüge und Aktenkoffer und unterhielten sich angeregt mit Mr Judan oder auch untereinander. Man schüttelte sich die Hände zur Begrüßung, während Schüler die Koffer ins Bly verfrachteteten, wo die Gäste schlafen sollten. Im Hintergrund schlich eine Gruppe Männer und Frauen mit ernstem Gesicht und Knopf im Ohr herum, wahrscheinlich Wächter. Die Hände hatten sie entweder in die Hüften gestemmt oder vor der Brust verschränkt. Es ließ sich unschwer erahnen, dass unter ihren Jacken Pistolen steckten.
Nach dem Frühstück ließ Rektorin Solomon über Lautsprecher verkünden, dass es sich bei den Besuchern um Teilnehmer einer internationalen gemeinnützigen Organisation handelte. Alisha, eine Zehntklässlerin aus dem Programm, verriet mir, dass es Mitglieder des Hohen Rats waren, die wahrscheinlich wegen der Vorfälle in Washington zusammengekommen waren.
Barrett passte mich auf dem Flur ab, als ich gerade auf dem Weg zum Schwerpunktunterricht war. »Ich würde dir gern jemanden vorstellen.«
Das Bly lag zurückgesetzt hinter dem Haupthaus. Mit seinem strahlend weißen Anstrich, der rundumlaufenden Veranda und Hunderten von roten und rosafarbenen Kletterrosen hätte es gut auf eine Postkarte gepasst. Eine große Gestalt mit weißem Haarschopf wartete auf der Veranda auf uns.
Barrett deutete mit einem Kopfnicken auf mich. »Dad, das ist Dancia Lewis.«
Der weißhaarige Mann streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Ronald Alterir.« Er hatte ein langes, schmales Gesicht und Habichtsaugen. Die Ähnlichkeit mit Barrett war frappierend, nur dass Ronald Alterir so aussah, als wäre er es gewohnt, Befehle zu erteilen. »Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Nur Gutes, natürlich«, sagte Barrett mit blitzenden Zähnen.
»Danke, Mr Alterir«, sagte ich und trat nervös einen Schritt zurück, nachdem er meine Hand losgelassen hatte. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Bitte nenn mich doch Ronald.« In einer Ecke der Veranda standen gepolsterte Stühle. »Ich habe vor meiner ersten Verabredung noch ein paar Minuten Zeit. Wollen wir uns nicht setzen?«
»Wir möchten dich nicht stören«, sagte Barrett. »Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast.«
Mr Alterir seufzte – auch wenn er mir das Du angeboten hatte, fühlte ich mich bei dem Gedanken, ihn Ronald zu nennen, nicht so ganz wohl. »Ihr stört doch nicht. Ihr seid für mich eher eine willkommene Abwechslung. Bei diesen Besprechungen geht es immer hoch her, besonders nach einem Vorfall mit den Irin.«
Wir setzten uns. Barrett und ich nahmen nebeneinander Platz, Mr Alterir setzte sich uns gegenüber. Sittsam schloss ich die Knie, aber innerlich war ich total nervös. Barrett hatte mir einiges über seinen Vater erzählt. Von Cam und ein paar anderen hatte ich zudem erfahren, dass er und Mr Judan nicht gut miteinander auskamen. Warum, wusste ich natürlich nicht, aber bestimmt hatte es mit den Wächtern zu tun.
»Weitere Notstandsbeschlüsse?«, fragte Barrett.
»Wahrscheinlich.« Mr Alterir schlug die Beine übereinander. »Normalerweise würde ich nicht so offen vor einer Schülerin sprechen, Dancia. Aber du scheinst ja auch keine normale Schülerin zu sein.«
Da ich mir nicht sicher war, ob das ein Kompliment sein sollte, zuckte ich lediglich mit den Achseln.
»Sie ist etwas ganz Besonderes«, sagte Barrett und streckte seine langen Beine aus. Neben den teuren Slippern seines Vaters wirkten seine alten Sandalen besonders abgewrackt. »So viel steht fest.«
»Tut mir leid, dass du den Vorfall mit der Gruppe aus Seattle so hautnah miterleben musstest«, sagte Mr Alterir. »Es ist immer äußerst beunruhigend, wenn unsere
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