Night School 02 - Der den Zweifel saet
faltete es auseinander und entdeckte ganz oben sofort ihren Namen in Christophers unverwechselbarer, linksgeneigter Handschrift.
Liebe Allie,
ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauert, bis ich wieder mit Dir spreche. Ich habe Dich so vermisst! Von Dir getrennt zu sein, war das Schlimmste.
Als ich Dich in der Nacht damals vor zwei Monaten gesehen habe, wusste ich, dass ich wieder Kontakt zu Dir aufnehmen muss. Du hast Dich so verändert, dass ich Dich fast nicht wiedererkannt hätte. Du bist jetzt erwachsen.
Ich bin so stolz auf Dich.
Du kannst bestimmt nicht verstehen, warum ich auf Nathaniels Seite bin, das ist mir klar. Aber ich bin weder verrückt geworden, noch habe ich mich einer Sekte angeschlossen, oder was auch immer Mum und Isabelle Dir erzählt haben mögen. Ich habe nur die Wahrheit über unsere Familie erfahren. Und ich habe meine Wahl getroffen.
Ich möchte, dass Du dieselbe Chance bekommst, eine Wahl zu treffen, wie ich sie hatte, basierend auf der Wahrheit darüber, wer wir sind. Wir Meldrums .
Darum würde ich mich gern mit Dir treffen, damit wir reden können. Wie wär’s mit nächstem Freitag um Mitternacht? Ich warte am Bach, bei der Kapelle auf Dich.
Vermutlich bist Du immer noch sauer auf mich, und ich könnte es verstehen, wenn Du nicht kämest. Aber ich werde auf jeden Fall da sein. Ich bitte Dich, komm. Ich kann’s nicht erwarten, Dich wiederzusehen.
Christopher
Allie stand stocksteif da und starrte durchs Fenster in den dunklen Herbstabend.
Christopher ist hier gewesen, in meinem Zimmer. Er hat genau da gestanden, wo ich jetzt stehe.
Tränen rannen ihr aus den Augen.
Wenn er mich so dringend sehen wollte, wieso hat er dann nicht gewartet, bis ich komme? Wieso einen Brief dalassen und sich wieder davonschleichen?
Mühsam zwang sie sich, den Brief noch einmal zu lesen. Diesmal erst bemerkte sie, dass Christopher den Namen ihrer Großmutter zweimal unterstrichen hatte, damit er sich von den anderen Wörtern abhob. So fest hatte er den Stift aufgesetzt, dass er sich fast durchs Papier gedrückt hatte.
Den Brief in der Hand, stand sie da, und in ihrem Kopf hallte nur ein Gedanke wider:
Was soll ich jetzt tun?
In dieser Nacht konnte Allie nicht schlafen. Sie las den Brief immer und immer wieder, bis sie ihn auswendig konnte.
Gegen drei Uhr morgens, als sie endlich sicher war, dass er keine geheime Botschaft enthielt und sie nichts überlesen hatte, legte sie sich aufs Bett, bedeckte mit den Händen die Augen und begann, ihre Atemzüge zu zählen.
Etwas anderes blieb ihr kaum übrig.
Wem immer sie von dem Brief erzählte, der-oder diejenige würde sie drängen, Isabelle zu informieren – um sie zu schützen. Und schon wäre die Angelegenheit Allie aus den Händen genommen.
Sie würden mich nie zu ihm lassen, und vielleicht tun sie ihm ja … was an. Liefern ihn der Polizei aus. Oder irgendwas anderes.
Doch die Alternative war, alle, die sie kannte, zu belügen. Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz mulmig. Sie wusste noch genau, wie es sich angefühlt hatte, als sie Carter belogen hatte, erst vor ein paar Stunden …
Soll das jetzt zum Dauerzustand werden, oder was?
Und so drehten sich ihre Gedanken immer weiter im Kreis. Irgendwann musste sie aber doch eingedöst sein, denn als der Wecker kurz vor sieben klingelte, riss er sie aus dem Schlaf.
Den ganzen Tag über bewegte sie sich in einem Nebel der Erschöpfung und Panik; den Unterricht nahm sie wie durch einen Schleier wahr. Als Rachel eine Bemerkung über die dunklen Ringe unter ihren Augen machte, griff Allie erneut zu einer Lüge: »Ich glaub, ich brüte was aus.«
Es fiel ihr immer leichter, zu lügen, doch als Rachel sofort die Glucke raushängen ließ und darauf bestand, ihr Tee mit Honig zu bringen, kam sie sich vor wie ein Monster.
Den ganzen Tag grübelte sie darüber nach, was sie bloß tun sollte.
Beim Abendessen stocherte sie in ihrem Essen, ohne es anzurühren, und mied Rachels aufmerksamen Blick. Zu allem Unglück war sie auch noch mit Sylvain zum Interview verabredet, dabei war jetzt schon alles so kompliziert, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie tun sollte – oder sagen.
Sie war zu müde, um sich noch eine Lüge auszudenken. Doch wenn sie ihm die Wahrheit sagte …
Plötzlich fühlte sie sich
tatsächlich
krank und schob ihren Teller von sich.
Was mach ich nur?
Kurz nach acht stand Allie wie verabredet am Treppenabsatz – mit fest verschränkten Armen, sonst hätte
Weitere Kostenlose Bücher