NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
würde in ein paar Minuten wieder da sein.« Amy trat einen Schritt zurück und betrachtete Gillian, die Schere hoch erhoben. »Weißt du, ich bin mir nicht sicher, ob ich das machen sollte...«
Bevor Gillian antworten konnte, hörte sie, wie die Haustür geöffnet wurde, und das Rascheln von Papiertüten erklang. Dann erschien ihre Mutter, die Wangen gerötet von der Kälte. Sie hielt zwei Supermarkttüten in den Armen.
»Hallo, Mädels«, begann sie und brach dann wieder ab. Ihr Blick fiel auf Gillians Haar, und der Unterkiefer klappte ihr herunter.
»Lass die Tüten nicht fallen«, sagte Gillian. Sie versuchte, unbefangen zu klingen, aber ihr Magen hatte sich wie eine Faust zusammengekrampft. Ihr Hals fühlte sich steif und unnatürlich an, so reglos saß sie da. »Gefällt es dir?«
»Ich - ich...« Gillians Mutter stellte die Tüten auf die Küchentheke. »Amy... musstest du denn alles abschneiden?«
»Das war nicht Amy. Ich habe es gestern Abend gemacht. Ich hatte es satt, es lang zu tragen...« Und es war ganz nass und eiskalt. »... und es war ganz nass und eiskalt. Also habe ich es abgeschnitten. Wie ist es nun, gefällt es dir oder nicht?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ihre Mutter langsam. »Du siehst so viel älter aus. Wie ein Pariser Model.«
Gillian strahlte.
»Nun.« Ihre Mutter schüttelte leicht den Kopf. »Jetzt, da es einmal passiert ist - komm, ich schneide es ein wenig in Form. Nur die Spitzen.« Sie nahm Amy die Schere ab.
Wenn sie fertig ist, werde ich eine Glatze haben!
Nein, ivirst du nicht, Kleines. Sie weiß, was sie tut.
Und seltsamerweise hatte es etwas Tröstliches, zu spüren, wie ihre Mutter vorsichtig mit der Schere hantierte. Auch der Duft ihrer Mutter tat wohl, denn er roch frisch wie Lavendelseife, ohne eine Spur des schrecklichen Alkoholgestanks darin. Es erinnerte Gillian an die alten Zeiten, als ihre Mom am Junior College unterrichtet hatte und jeden Morgen aufgestanden war; damals war ihr Haar nie ungekämmt, waren ihre Augen nie blutunterlaufen gewesen. Bevor die Streitereien angefangen hatten, bevor ihre Mom ins Krankenhaus musste.
Ihre Mutter schien es ebenfalls zu spüren. Während sie einige abgeschnittene Strähnen wegwischte, tätschelte sie Gillians Schulter. »Ich habe frisches Brot mitgebracht. Ich werde Zimttoasts und heiße Schokolade machen.« Ein weiterer liebevoller Klaps, dann fuhr sie mit bedächtiger Gelassenheit fort: »Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Du musst gestern Abend... ziemlich gefroren haben. Wenn du willst, können wir Doktor Kaczmarek rufen; das würde dich kaum Zeit kosten.«
»Nein, mir geht es gut. Wirklich. Aber wo ist Daddy? Ist er schon zur Arbeit gefahren?«
Es folgte eine Pause, dann sagte ihre Mutter, immer noch gelassen: »Dein Vater ist gestern Nacht fortgegangen.«
»Dad ist gegangen?« Dad ist gegangen?
Es ist gestern Nacht passiert, ivährend du geschlafen hast.
Gestern Nacht scheint, ivährend ich geschlafen habe, eine Menge passiert zu sein.
So ist die Welt eben, Libelle, sie dreht sich zweiter, auch wenn du nicht darauf achtest.
»Wie dem auch sei, wir werden später darüber reden«, sagte ihre Mutter. Ein letztes Schulterklopfen. »So, das ist perfekt. Du bist wunderschön, auch wenn du nicht mehr wie mein kleines Mädchen aussiehst. Aber jetzt solltest du dich besser warm anziehen; es ist heute Morgen ziemlich kalt.«
»Ich bin schon angezogen.« Der Augenblick war gekommen, und im Grunde war es Gillian gleichgültig, ob sie ihre Mutter jetzt schockierte oder nicht. Ihr Vater war wieder einmal gegangen - auch wenn das nicht ungewöhnlich war, so war es dennoch beunruhigend. Die Nähe zu ihrer Mutter war verdorben worden, und sie wollte auch keinen Zimttoast mehr.
Gillian trat mitten in die Küche und ließ den rosafarbenen Bademantel fallen.
Sie trug eine Hüftjeans, ein schwarzes Camisole und darüber offen eine schwarze Bluse, dazu flache, schwarze Stiefel und eine schwarze Armbanduhr.
Und das war alles, was sie anhatte. »Gillian.«
Amy und ihre Mutter starrten sie an.
Gillian bot ihnen trotzig die Stirn.
»Aber du trägst doch nie Schwarz«, meinte ihre Mutter schwach.
Das wusste Gillian auch. Sie hatte lange gebraucht, um diese Dinge in dem vergessenen Hinterland ihres Kleiderschranks aufzuspüren. Das Camisole hatte ihr Urgroßmutter Elspeth vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt, und das Preisschild hatte sogar noch drangehangen.
»Hast du nicht vergessen, einen Pullover darüber
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