Nightschool. Du darfst keinem trauen
charakteristische Stimme. Allie drehte sich um. »Wir haben es immer selbst in der Hand«, sagte Sylvain. »Was geschieht, steht voll und ganz in unserer Macht. Es gibt kein Schicksal. Wie auch?«
»Typisch«, murmelte Carter.
Sylvain starrte ihn wütend an. »Was soll das jetzt wieder heißen, Carter?«
Bevor Carter antworten konnte, ging Isabelle dazwischen. »Es freut mich, dass ihr beiden die Poesie so ernst nehmt, aber ich hatte in meinem Klassenzimmer noch nie einen Streit über Omar Khayyām – und das soll auch so bleiben. Und ich glaube, wir haben meine Lieblingspassage erschöpfend behandelt. Lasst uns jetzt folgende Textstelle anschauen …«
In der darauffolgenden Woche kehrte das Internat zur Normalität zurück – wenn auch zu einer etwas ramponierten Normalität. Der Rauchgeruch verzog sich allmählich, und im Rittersaal wurde mit den Renovierungsarbeiten begonnen. Vor dem Westflügel stand auf einmal ein Schuttcontainer, und die Schüler wurden regelmäßig gebeten, den Hauptflur zwischen Rittersaal und Container zu meiden. Das nervtötende Gehämmere und Gebohre wurde bald zu einem lästigen Bestandteil des täglichen Lebens.
Lisa wurde zur Erholung nach Hause geschickt. Und da auch Jo nicht verfügbar war, verbrachte Allie unversehens die meiste Zeit mit Rachel und damit in der Bibliothek, wo sich Rachel anscheinend häuslich eingerichtet hatte. Allie war also nicht besonders überrascht, als Rachel am Freitagnachmittag nach dem Unterricht vorschlug, in die Bibliothek zu gehen, um dort zu lernen. Lucas kam zähneknirschend mit, aber nur, weil er bis Montag eine Hausarbeit abgeben musste und sich noch nicht einmal die dafür maßgeblichen Texte angeschaut hatte.
Was die Naturwissenschaften anbetraf, erwies sich Rachel als ideale Lerngefährtin, weil sie einfach alles wusste.
»Du bist echt ’ne richtige Wissenschaftstante«, staunte Allie und verzog das Gesicht, als Rachel mit leuchtenden Augen die Anatomie des Bandwurms erläuterte.
»Was meinst du, wieso ich mich überhaupt mit der abgebe?«, sagte Lucas und sah von seinen Büchern auf. »Bestimmt nicht, weil man mit ihr so viel Spaß hat.«
Rachel boxte ihm mit dem Ellbogen in die Rippen und wandte sich Allie zu. »Naturwissenschaften sind eben mein Ding, aber du kannst mir gerne mit Französisch helfen. Das ist nämlich ganz bestimmt nicht mein Ding.«
»Französisch würd ich gegenüber Allie lieber nicht erwähnen«, warnte Lucas sie. Als sie ihn beide verständnislos anblickten, formte er mit den Lippen den Namen Sylvain .
»Bitte, hör auf«, sagte Allie und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Noch zu früh?«, fragte Lucas.
Allie nickte, doch Rachel hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.
»Was denn?«, fragte Allie.
»Es ist bloß«, kicherte Rachel. »Dass du mit Sylvain Schluss gemacht hast. Das ist irgendwie, ich weiß nicht, als hättest du mit Gott Schluss gemacht oder so was.«
Nun gab es kein Halten mehr – Lucas und Rachel prusteten lauthals los. »So ungefähr jedes Mädchen in dieser Schule würde liebend gerne mit ihm gehen, und du hast ihn einfach abserviert.«
Allie spürte, wie sie rot wurde, und sie schaute umher, um sicherzugehen, dass niemand sie gehört hatte.
»Jetzt haltet mal die Klappe!«, zischte sie. »Ich mein’s ernst!«
Während die beiden versuchten, sich zusammenzureißen, und Rachel sich die Lachtränen aus den Augen wischte, blätterte Allie mit finsterem Blick in ihrem Buch. »Er hat sich eben wie ein Wichser benommen«, murmelte sie zu ihrer Verteidigung.
Und schon prusteten sie wieder los, nur dass Allie diesmal mitlachen musste. Lustig war’s ja, das musste sie zugeben, wenn auch auf eine schreckliche Weise.
Die Bibliothek langweilte Allie, deshalb zog sie sich nach dem Abendessen in den Aufenthaltsraum zurück und ließ sich in den tiefen Ledersessel sinken, der neben dem Klavier stand. Dort wollte sie die Texte lesen, die sie für Englisch aufhatte. Seit einer Woche versuchte sie mit dem Stoff hinterherzukommen, doch sie war immer noch im Rückstand. Die Lehrer hatten den Druck noch einmal erhöht, als hätte es kein Feuer und keinen Mord gegeben. Und obwohl Allie noch bergeweise Kapitel zu lesen hatte, begannen die Worte mit der Zeit vor ihren Augen zu verschwimmen, bis sie irgendwann einnickte. Deshalb brauchte sie einen Moment, bis sie begriff, was los war, als ihr jemand ein Stück Papier vor die Nase hielt, das zu einem winzigen Quadrat zusammengefaltet
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