Nightschool. Du darfst keinem trauen
nutzen – und zum Nachdenken.«
Allie hatte während seiner Worte die ganze Zeit auf den Boden gestarrt, doch nun blickte sie auf und sah die Besorgnis in Jerrys Gesicht. »Geht es ihr denn besser?«, fragte sie. »Gestern war sie einfach … na ja … so anders.«
Jerrys braune Augen lugten freundlich hinter den funkelnden Brillengläsern hervor. »Ich habe sie leider noch nicht wieder gesehen. Frag doch mal Eloise oder Isabelle – die sind für Jos Stubenarrest zuständig. Aber ich bin sicher, es geht ihr gut.«
Allie nickte. »Danke, Jerry.«
Lucas hatte also recht, dachte Allie. Sie haben Jo eingebuchtet, aber nicht rausgeschmissen. Ob sie sich inzwischen wieder eingekriegt hat? Allein bei der Frage kam sie sich sofort illoyal vor. Doch sie konnte auch nicht so tun, als ob ihr angesichts der Ereignisse vom Vortag keine Zweifel gekommen wären: Wie gut kannte sie Jo eigentlich?
Aufgrund des Gesprächs mit Jerry wäre sie beinahe zu spät zum Englischunterricht gekommen. Als sie das Klassenzimmer betrat, saßen die meisten Schüler schon auf ihren Plätzen. Sie setzte sich neben Carter, der in seinem Notizblock herumkritzelte.
»Hey.«
»Selber hey.« Er schaute auf, um sie kurz anzulächeln, und widmete sich dann wieder seiner Zeichnung.
»Wo warst du denn?«, fragte Allie und holte ihre Bücher aus der Tasche. »Ich hab dich seit gestern früh nicht mehr gesehen.«
Er sah sie bedeutungsvoll an. »Na ja, dies und das. Du weißt schon.«
Allie hob die Augenbrauen, verzichtete aber auf eine Bemerkung.
»Jerry sagt, Jo steht für ’ne Woche unter Hausarrest«, sagte sie und blätterte durch ihr Buch.
»Geschieht ihr recht«, sagte Carter und fügte hinzu. »’ne Zwangsjacke würde auch nicht schaden.«
»Guten Morgen.« Isabelles Stimme ersparte es Allie, sich eine Entgegnung auszudenken. »Wir haben kürzlich Werke von T. S. Eliot gelesen, und letzte Woche habe ich euch gebeten, ein Werk zu lesen, das großen Einfluss auf sein Schreiben hatte, nämlich die Rubaiyat des persischen Dichters Omar Khayyām, die wir letzten Freitag …«
Nach all dem, was passiert war, hatte Allie keine Erinnerung mehr an die Schulstunde vom vergangenen Freitag. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Isabelle zu glauben.
»Beginnen wir mit meiner Lieblingsstelle, Strophe LXIX. Clare« – sie wandte sich an eine hübsche Blondine –, »liest du uns die bitte vor?«
Allie hatte einen Anfall von Eifersucht – Clare war Carters Tanzpartnerin auf dem Ball gewesen, und Allie war ihr seit jenem Abend aus dem Weg gegangen. Sie erinnerte sich an Clares bewundernde Blicke in Richtung Carter. Doch der hatte damals nur Augen für Allie gehabt.
Clare stand auf und las mit lieblicher, glockenheller Stimme vor:
Welt ist ein Schachbrett aus Tag und Nacht,
Wo das Schicksal mit den Menschen spielt,
Sie durcheinanderschiebt und schlägt,
Und nachher in die Schachtel legt.
»Danke, Clare«, sagte Isabelle.
Als die Schülerin sich wieder setzte, warf sie einen hoffnungsvollen Blick auf Carter, doch dessen Augen waren auf seinen Notizblock geheftet.
Was für ein Schlamassel , dachte Allie, malte ein schwarzes Herz auf eine unbeschriebene Seite ihres Hefts und durchbohrte es mit einem Pfeil.
Isabelle lehnte sich an eins der Pulte. »Hier haben wir es mit einem beinahe existenzialistischen Stück Literatur zu tun – die meisten von euch werden sich an Grundhaltung und Thesen des Existenzialismus erinnern, die wir am Anfang des Trimesters durchgenommen haben; wenn nicht, wohlan, auf in die Bibliothek: Das kommt im Test dran! Mit einem Text also, den ich sowohl wegen seiner düsteren Sicht auf das Leben und wegen seines schwarzen Humors liebe. Die Balance ist ziemlich einzigartig. Worum geht es eurer Meinung nach?«
Als Allie die Passage am Sonntag gelesen hatte, hatte sie kurz an Jos erfolglose Schachlektion denken müssen. Doch als sie jetzt ihre Hand heben wollte, wurde sie von Carters Stimme überrascht – sie hätte nicht gedacht, dass er dem Unterricht folgte.
»Darum, dass wir Menschen im Grunde Schachfiguren sind. Und dass das Schicksal entscheidet, was uns widerfährt – wen wir heiraten, wann wir sterben. Nur, wo bleibt da der eigene Wille? Treffen wir denn keine Entscheidungen? Sind wir wirklich so machtlos?«
»Ganz genau«, sagte Isabelle. »Andererseits: Wird unser Wille nicht auch durch das bestimmt, was das Schicksal uns vorsetzt?«
»Aber das ist doch absurd«, ertönte von hinten eine
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