Nightschool. Du darfst keinem trauen
sah auf ihre Uhr. »Hast du gerade Zeit, oder musst du irgendwohin?«
Allie schüttelte den Kopf. »Dann lass uns doch zusammen Mittag essen.« Sie machten sich auf in Richtung Speisesaal. »Ich möchte alles wissen«, sagte Rachel. »Abgesehen von der Sache mit Ruth, möchte ich wissen, was mit Jo ist. Was ist denn da passiert? Hat sie sich wirklich vom Dach gestürzt? Man hört da Sachen – unglaublich …«
Sie setzten sich in eine ruhige Ecke des Speisesaals, aßen Sandwiches und tranken Tee. Allie fing an zu erzählen und hörte gar nicht mehr auf. Wie sie erst Ruth und später Lisa gefunden, und was sich auf dem Dach zugetragen hatte. Rachel hing an Allies Lippen und rührte ihr Sandwich kaum an.
Warum sie ausgerechnet ihr all die Sachen erzählen konnte, die sie bisher noch keinem erzählt hatte, wusste Allie selbst nicht. Vielleicht musste ich einfach mal mit jemandem reden, der kein Kerl ist oder sich gleich vom Dach stürzt , dachte sie.
Aus welchem Grund auch immer – sie redete wie ein Wasserfall.
Rachel hatte etwas zutiefst Aufrichtiges an sich. Sie schien viel über Cimmeria zu wissen und war trotzdem eine kritische Beobachterin. Sie wusste alles über jeden auf dem Internat und wahrte dennoch gegenüber den meisten ihrer Mitschüler Distanz. Lucas war offenbar ihr einziger guter Freund. Doch als Allie fragte, wieso sie dann nicht zusammen mit ihm und Gabe und Jo an einem Tisch saß, verzog sie das Gesicht und sagte: »Nicht so mein Fall.«
Rachel hörte aber nicht bloß zu. Sie erwies sich als wahre Klatschkolumnistin, die über sämtliche Intrigen auf Cimmeria Bescheid wusste.
»Woher weißt du denn das alles?«, fragte Allie irgendwann.
»Ich höre einfach zu«, sagte Rachel. »Man glaubt gar nicht, wie viel man erfährt, wenn man ruhig dasitzt und so tut, als wäre man beschäftigt. Vielleicht liegt mir das im Blut. Mein Vater ist so eine Art Ermittler.«
»Du meinst, so was wie ’n Polizist?«, fragte Allie.
»So was in der Art.«
Als sich der Saal geleert hatte und die beiden alleine waren, forderte Rachel Allie heraus: »Nenn mir den Namen von irgendjemandem auf diesem Internat, und ich sag dir alles über ihn – was bekannt ist und was man sich so erzählt.«
»Jetzt ernsthaft?«, fragte Allie und lachte.
»Ernsthaft.«
»Na gut … Katie Gilmore«, sagte Allie.
Rachel lächelte. »Gute Wahl. Unglaublich reich. Ihr Vater ist Investmentbanker, lebt in Kensington und vögelt die Haushälterin. Die Kinder kauft er mit Urlaub auf den Seychellen und die Mutter mit einer schwarzen American-Express-Karte.« Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein. »Ihr Bruder hat letztes Jahr hier seinen Abschluss gemacht und studiert jetzt in Oxford, wo er lernt, Geld zu scheffeln wie sein Vater.«
»Mein lieber Schwan«, sagte Allie beeindruckt. »Und was ist mit Jules?«
Rachel nickte. »Jules Matheson – sehr schlau, Noten perfekt, Aussehen perfekt – alles perfekt. Fast schon gruselig. Der Vater ist ein angesehener Anwalt, und ihr Bruder war auch schon hier. Er hat gerade in Cambridge mit Auszeichnung seinen Abschluss in Alter Geschichte gemacht. Alles höchst anständig. Willst du was über Jo hören?«
Bei dieser Frage musste Allie schwer schlucken. Sie zögerte mit ihrer Antwort. Es kam ihr vor, als würde sie Jo verraten. Andererseits erzählte Jo nie so richtig von sich. Und nach allem, was passiert war …
»Ja«, sagte sie.
»Jo Arringford. Tochter des Bankiers und ehemaligen Ministers Thomas Arringford, der jetzt einen hohen Posten beim Internationalen Währungsfonds in Genf hat – sowie Häuser in Knightsbridge, Kapstadt, St. Tropez und weiß der Kuckuck wo«, spulte sie ab. »Ihre Eltern sind geschieden, und ihr Vater hat eine Neue, die ganze sechs Jahre älter ist als Jo. Die Mutter lebt die meiste Zeit in St. Tropez. Ihr Bruder ist acht und geht in Eton zur Schule. Jo ist ziemlich gescheit und hat super Noten. Sie hat drei Nervenzusammenbrüche hinter sich, und vor anderthalb Jahren hat sie versucht, sich …«
»Stop!«, sagte Allie – zu spät.
»… umzubringen«, schloss Rachel.
»Jo hat versucht, sich umzubringen?«, flüsterte Allie.
Rachel nickte düster. »In den Weihnachtsferien. Ihre Eltern … Keiner von beiden hat sie nach Hause eingeladen. Sie ist hiergeblieben … und hat Tabletten genommen.«
Allie wurde ganz anders. »Wie ist sie …?«
»Lucas hat sie gefunden. Sie waren damals erst ein paar Monate zusammen, und er ist dageblieben, um
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