Nightside 10 - Für eine Handvoll Pfund: Geschichten aus der Nightside Band 10 (German Edition)
wissenschaftlich anmutende Person in einem makellos weißen Laborkittel stolzierte auf mich zu und sprach in leisem Koptisch mit sich selbst. Schließlich begann eine Horde russischer Touristen in Bad-Tschernobyl-T-Shirts, mich zu fotografieren, bis sie merkten, wer ich war und sich entschieden, stattdessen ein plötzliches Interesse für etwas anderes zu entwickeln.
Nicht ungewöhnlich für die Nightside, wo man an manchen Tagen nicht darauf vertrauen konnte, dass etwas oder jemand zehn Minuten am Stück unverändert blieb. Jeder hier hatte einige scheußliche Geheimnisse, nährte etwas Kaltes, Widerliches an der Brust oder verbarg besondere Bedürfnisse und Faszinationen, die man nur in den neonhellen Straßen der Nightside offenbaren und befriedigen konnte. Ein geheimes Gesicht hinter jeder öffentlichen Maske, eine versteckte Botschaft in was auch immer man Ihnen erzählte. Selbst ich, so hatte sich gezeigt, war nicht ... der, für den ich mich gehalten hatte.
Liliths Sohn ...
Der Fluxnebel brandete vorwärts und füllte die Straßen, und ich breitete die Arme aus, um das beißende Prickeln des Dunstes in mir aufzunehmen, als er über mich waberte. Das war waghalsig und dumm, doch die Unruhe in mir war so stark, dass ich das verzweifelte Bedürfnis hatte, etwas zu tun – irgendetwas Unnormales –, nur um mir zu beweisen, dass ich noch Herr über mein Leben war. Dass immer noch ich die Entscheidungen traf. Der Nebel fühlte sich heiß und klamm an, wie der Dampf in einem Krankenzimmer, wo das Fieber brannte wie Wahnsinn und Erleuchtung auf einmal. Schattenhafte Umrisse jagten dahin wie Haie, die bedrohlich einen Körper im Wasser umkreisten, und irgendwo in der Ferne kündigte eine Glocke aus Eis die letzten Stunden vor der Morgendämmerung an.
Dann, einfach so, war der Nebel verschwunden. Die Straße mit all ihren wilden, grellen Details war wieder da, die Clubs und Etablissements lärmten wie immer. Die bunten Primärfarben der Neonschilder leuchteten so schäbig und anrüchig wie gewöhnlich, und der riesige, überdimensionale Mond stand kalt am klaren Nachthimmel. Die Leute schwappten zurück nach draußen auf die Bürgersteige, jeder darauf bedacht, seine eigene Art von Himmel oder Hölle ausfindig zu machen, seine ganz eigenen Belohnungen und Verdammnisse. Nichts hatte sich verändert, am wenigsten ich selbst. Ich ließ die Arme sinken und fühlte mich leicht albern und vage enttäuscht. Der Fluxnebel hatte mich nicht berührt. Vielleicht aufgrund meiner nicht ganz menschlichen Natur, vielleicht, weil er Angst vor mir hatte. Oder vielleicht, weil er sich nicht dazu herabließ, jemanden anzutasten, der es wollte ...
Warum war ich in dieser Nacht der Nächte so unruhig? Warum wollte ich so sehr, dass sich mein Leben änderte? War es, weil ich endlich alles hatte, was ich mir je gewünscht hatte und alles, was ich denken konnte, war: „Ist das alles ?“
Vielleicht war es Glück, dass in diesem Moment mein Handy klingelte und Mike Oldfields „Tubular Bells“ ertönte. Unlängst war ich die Titelmelodie von „Geschichten aus der Gruft“ losgeworden – manche Witze waren eben nicht ewig lustig. Ich nahm mein Mobiltelefon, betätigte die Exorzismus-Funktion, um die wirklich beharrlichen Werbeanrufe abzuhalten, und tat mein Bestes, um fröhlich und normal zu klingen.
„Hallo! Hier ist der Anschluss von John Taylor, Privatdetektiv, Held zum Mieten und Travestiekünstler für private Anlässe. Dies ist eine Bandansage – oder auch nicht. Sprechen Sie jetzt.“
„Oh Gott, du hast wieder eine dieser Stimmungen, nicht?“, sagte meine Sekretärin Cathy. „Ich weiß nicht, warum du überhaupt versuchst, heiter zu klingen, du weißt doch, dass du das nicht draufhast. Ich dagegen bin immer frohgemut, bezaubernd und charmant, denn ich bin jung, frisch und immer noch relativ unbefleckt.“
Da hatte sie recht. Cathy war so unablässig fröhlich, dass ich schon angenommen hatte, sie nehme morgens, mittags und abends jede nur erdenkliche Droge, aber nein, sie war einfach nur sie selbst. Es sollte ein Gesetz dagegen geben.
„Was willst du, Cathy?“, fragte ich ruhig. „Du störst meine privaten Mußestunden.“
„Oh, du wirst es nicht glauben, Boss.“
„Was hast du diesmal wieder angestellt?“
„Nichts! Jedenfalls nichts, worüber du dir Sorgen machen müssten. Aber du wirst einfach nicht glauben, wer gerade angerufen hat, um dich zu engagieren ... ein Elf! Wirklich! Ich dachte, ich drehe durch!
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