Nimmermehr
Schatten gleich. »Ich sah das Licht in Ihrer Wohnung. Nachdem ich derart oft um Einlass bitten musste, beschlich mich bereits der Verdacht, Sie wollten meine Gesellschaft meiden.« Sie lächelte, wissend, dass dem nicht so gewesen war. »Und nun – möchten sie mich nicht hineinbitten?«
Unnötig zu erwähnen, dass ich dies tat. Sie schlüpfte aus dem Mantel, ließ ihn über einen Sessel fallen und blickte sich in der unaufgeräumten Wohnung um. Bücher und Zeitschriften lagen in Massen auf dem breiten Glastisch vor dem Sofa, hinter dem man durch die Glasfront die nächtliche City sah. Die Wohnung bestand aus einem einzigen großen Raum, der von einer geräumigen Sitzgruppe direkt unter dem Fenster beherrscht wurde. In einer Ecke befand sich meine Arbeitsstätte, umgeben von stählernen Bücherregalen. Küche und Schlafzimmer verbargen sich hinter weißen Trennwänden. Riesige Grünpflanzen hauchten der vormaligen Lagerhalle Leben ein, durchbrachen die leere Weite mit einem Hauch Exotik.
»Ich bin noch immer hungrig«, sagte Leonore mit einem Lächeln, für das man keine Worte finden konnte. Der dunkle Anzug und das weiße Hemd einschließlich passender Krawatte erinnerten an die Mode der Vierzigerjahre und ließen sie zugleich distanziert und aufreizend erscheinen. Sie trug hohe, feste Schnürschuhe, die den Dielenboden knacken ließen, während sie mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen in der Wohnung umherging, ihr Umfeld begutachtete und mich nicht aus den Augen ließ.
Den letzten Rest meiner Schläfrigkeit abschüttelnd, bot ich ihr den Tee an, den sie bereits am Vorabend bevorzugt hatte. »Darf ich erfahren, was Sie zu dieser Stunde hierher führt?«
»Wir sollten die Förmlichkeit ablegen«, schlug sie vor und ließ sich auf dem Sofa nieder, betrachtete das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, suchte meinen Blick und fügte hinzu: »Richard.« Sie ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Würdest du mir den Gefallen erweisen und mich Leonore nennen?«
Ich reichte ihr den Tee. »Leonore«, sagte ich.
»Danke«, sagte sie, und ich bezweifelte, dass sich diese Dankbarkeit auf den Tee bezog.
Ich ließ mich am anderen Ende des Sofas nieder. »Nun denn, darf ich erfahren, was dich zu dieser Stunde herführt?«
Sie nippte am Tee. »Das sagte ich bereits«, gab sie zur Antwort und zeigte ein Lächeln, das ihre Augen aufleuchten ließ. »Ich bin hungrig.« Überraschend ergriff sie meine Hand und hielt sie fest. Das Lächeln erstarb ganz plötzlich. »Ich habe Angst vor dem, was mit uns passiert.« Ihre Stimme zitterte. »Dinge geschehen manchmal ohne unser Zutun.« Sie senkte den Blick, blinzelte unsicher. »Als sei da ein unsichtbarer Puppenspieler, der die Fäden zieht.« Draußen peitschte Regen gegen das Fenster, begleitet vom leisen Heulen des Windes, der sich anhörte wie das Heulen in den U-Bahn-Schächten.
Ich ließ meinen Finger sanft über ihr Handgelenk streichen. »Was ist dein Geheimnis, Leonore?« Die Stimme, die diese Frage stellte, schien nicht meine eigene zu sein. Der Augenblick war wie ein Traum; ganz so, als halte das Leben den Atem an.
»Es gibt kein Geheimnis«, sagte sie schnell.
»Was ist es dann? Was verbindet uns?«
»Seele, Herz.« Sie sah mich an, befeuchtete die Lippen. »Körper.«
Mein Blick fiel auf ihren schlanken Hals, den weißen Nacken. Als sie sprach, tat sie dies geistesabwesend, wie in die Dunkelheit der nächtlichen Stadt versunken. »Ich möchte dich spüren. Überall. Ich möchte, dass du mich spürst.« Diese grün schimmernden Katzenaugen. »Ich möchte dir nah sein.« Sie wirkte auf eine seltsame Art vertraut, und es war, als wäre dieser Moment unausweichlich gewesen von jenem Augenblick an, als der Zufall uns zusammengeführt und ich im Halbdunkel des Antiquariats die Tränen in ihren Augen gesehen hatte.
Ich ließ mich fallen, ohne nachzudenken. Wir verbrachten die Nacht gemeinsam bis zum Morgengrauen. Leonores Bewegungen waren die einer Katze. Es gefiel ihr, sich mir zu entziehen; ihr biegsamer Körper entwand sich fortwährend meinem Griff. Im Halbdunkel der Wohnung war mir, als leuchteten ihre Augen auf, denen eines Raubtieres gleich. Ihre Finger krallten sich in meinen Körper, und als sie mich in den Mund nahm, spürte ich spitze Zähne an meiner Haut, schmerzend und erregend zugleich. Benommen erkannte ich Rinnsale dunklen Blutes auf meinen Schenkeln und ihren Lippen. Die funkelnden Katzenaugen fixierten mich, und ohne den Blick abzuwenden,
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