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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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verrückt«, sagte er besorgt.
    »Ja«, gab ich zur Antwort, »ich weiß.«
     
    »Wie oft begegnen wir Menschen«, sagte Leonore später, »die unsere Blicke anziehen. Spürst auch Du nicht oft, dass fremde Blicke flüchtig deinen Körper streifen? Es bleibt viel zu oft bei dieser flüchtigen Begegnung, bei welcher man Blicke austauscht, um den anderen nie wiederzusehen. Und fragt man sich im Nachhinein dann nicht, was hätte passieren können?« Wir befanden uns in ihrer Wohnung über dem Laden, lagen auf der breiten Couch unter dem Fenster, das hinaus auf die Gasse ging. »Wie oft bleibt es bei diesem Was wäre wenn. Wie oft fühlt man Reue über die verpasste Gelegenheit, in das Leben eines anderen Menschen einzutreten. Was wäre wenn, Richard. Wir hätten es bei einem flüchtigen Blick belassen können, und es wäre eine Begegnung unter vielen geblieben. Unbedeutend, in Vergessenheit geratend.« Wir küssten uns, ihre Zunge benetzte meine Lippen. »Haben wir uns richtig entschieden?«, flüsterte sie. »Ist es nicht diese Frage, die man sich immer stellt? War unsere Entscheidung richtig?«
    »Stünde ich vor der Wahl«, gab ich zur Antwort, »so würde ich erneut die Entscheidung treffen, dich im Charnas aufzusuchen.«
    Leonore musterte mich ernst. »Das ist gut«, sagte sie leise. Der Ausdruck in ihren hell funkelnden Augen war schwer zu deuten in diesem Augenblick. Sie wirkte nachdenklich, wie so oft während der Stunden unseres Beisammenseins. In manchen Momenten schien es, als fürchtete sie sich vor den Dingen, die kommen mochten, und mich beschlich das Gefühl, als wüsste sie mehr über eben diese Dinge, als sie preiszugeben bereit war. Sie wirkte in der Tat ein wenig neurotisch und verschroben.
    Als ich sie auf jenes Buch ansprach, das sie bei unserer ersten Begegnung in den Händen gehalten hatte und das offensichtlich der Grund für die Tränen in ihren Augen gewesen war, wich sie meinem Blick aus. »Es ist unwichtig«, war ihre ganze Erklärung dazu. »Manchmal trifft man überraschend auf alte Erinnerungen.« Als sie den Blick wieder hob, baten mich ihre Augen, keine weiteren Fragen zu stellen. Ich entsprach diesem Wunsch und ließ es dabei bewenden.
    Am Ende kann ich keine Aussage darüber treffen, wie lange sie für mich diese geheimnisumwitterte Leonore Beaumont geblieben wäre oder wann sie sich dazu bereit erklärt hätte, mich an ihrer Geschichte teilhaben zu lassen. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass jenes grauenhafte Ereignis, dessen Zeuge ich eines Nachts in Whitechapel wurde, ausschlaggebend war für meine Einweihung in ein Wissen, dessen Existenz mich noch immer mit Erstaunen und tiefster Sorge erfüllt und welches mein Leben für immer verändern sollte.
     
    Es war die Woche vor Heiligabend. London versank in einem in dicken Flocken herabrieselnden Weiß. Klirrende Kälte hatte sich der Stadt bemächtigt, und ich hatte seit über zwei Tagen nichts mehr von Leonore gehört.
    »Ich werde dich anrufen, wenn ich hungrig bin.«
    Unruhig wartete ich.
    Lange Stunden saß ich tatenlos vor dem großen Fenster in meiner Wohnung, beobachtete die wenigen Schiffe auf der Themse und die vorbeiziehenden dicken Wolken, die neuen Schnee verhießen, und war mit den Gedanken fast immer bei Leonore.
    Dass ich mit jemandem über dies alles reden musste, stand außer Frage. Dass derjenige Miles Sheridan sein würde, ebenfalls. Es gab nicht viele Freunde in meinem Leben, denen ich mich hätte anvertrauen können.
    Wir trafen uns in einer Kneipe in der Whitechapel Road und tranken Guiness, wie Männer es nun einmal tun, wenn sie reden wollen. Dann schwiegen wir. Und tranken noch einige Guiness. Vermutlich hatte ich nicht einmal damit gerechnet, von Miles einen Rat zu bekommen. Der Barkeeper, ein fetter bärtiger Eastender, drehte die Musik ein wenig lauter: U2, die Chieftains, Sinatra. Ich ließ mich von den Klängen berieseln und spürte die erste Wirkung der vielen Guiness im Kopf.
    Miles erzählte von seinen Problemen. Familienkram, doch irgendwie beneidete ich ihn darum. Miles wusste genau, wo er hingehörte. Er kannte Menschen, an deren Leben er teilnehmen durfte, so wie sie an dem seinen teilnahmen. Als ich ihn betrachtete, wie er neben mir auf dem Hocker saß, das frische Bier trank und mit müden Augen ins Dämmerlicht der Kneipe blinzelte, da wurde mir erneut bewusst, was er ausstrahlte. Es war ganz einfach: Miles Sheridan war glücklich. Zwar machten auch ihm die üblichen kleinen Probleme des

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