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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Moment.
     
    Den Abend des folgenden Tages verbrachte ich abwartend in meiner Wohnung in der Gainsford Street und versuchte die Zeit vergehen zu lassen. Die Begegnung mit Leonore Beaumont schien Jahre her zu sein. Rückblickend blieb die Unwirklichkeit des Tages, die nebelhafte Erinnerung an unser Gespräch und jene Berührung, die so jäh beendet worden war. Es gelang mir nicht im Geringsten, die Gedanken von Leonore abzuwenden. Ich suchte Ablenkung, fand sie jedoch nicht. Wenn ich Dickens las, dann schien es Leonore Beaumont zu sein, die durch die gaslichterhellten Straßen des viktorianischen London irrte; lauschte ich klassischer Musik, dann gaukelte mir meine Erinnerung Leonores Stimme vor; starrte ich aus dem Fenster in die Nacht hinaus, wähnte ich sie irgendwo dort draußen.
    Ich bewohnte einen Teil der zweiten Etage eines alten Lagerhauses in Bermondsey, am Südufer der Themse. Eine riesige Glasfront bildete die Außenwand meiner Wohnung, sodass sich mir ein ausgiebiger Blick auf den Fluss und die City darbot. In der Ferne, auf der anderen Flussseite, lag der hell angestrahlte Tower. Weiter westlich erhob sich die Kuppel der St. Paul’s Kathedrale über den Dächern der Innenstadt. Einige wenige Schiffe befuhren zu dieser Stunde die Themse, winzige unruhige Lichter in der Dunkelheit. Regentropfen prasselten gegen das Glas und ließen das nächtliche London in Konturen und Lichterspielen verschwimmen.
    Ich stand vor dem großen Fenster, ein Glas Rotwein in der Hand, und ließ die Ereignisse des gestrigen Abends erneut Revue passieren.
    Auf meinem Rückweg vom Sofra nahm ich die Central Line bis Bethnal Green, ging von dort aus eiligen Schrittes in südlicher Richtung zur Whitechapel Station, wo ich die letzte Bahn Richtung New Cross erwischte. Dreimal in dieser Nacht hörte ich ein seltsames Heulen, das mich erheblich beunruhigte. Als ich die Central Line in Bethnal Green verließ, hörte ich ein Heulen im langen röhrenförmigen Gang, der zur Straße hinaufführte. Die weißen gekachelten Wände ließen den schaurigen Laut verhallen, sobald ich den Kopf wendete und lauschend verharrte. Als ich dann in Whitechapel durch den Regen hastete, war es ein zweites Mal da. Wieder verstummte das Heulen, sobald ich den Eindruck erweckte, Kenntnis davon genommen zu haben. Außer mir schien jedoch niemand unterwegs zu sein. Die Straßen waren zu dieser Stunde (meine Uhr zeigte eine Stunde nach Mitternacht an) vollkommen menschenleer. Die Zeitungsberichte über die Morde, die in dieser Gegend verübt worden waren, kamen mir gerade in diesem Augenblick in den Sinn, was mich meine Schritte um ein weiteres beschleunigen ließ.
    Ich erreichte Whitechapel Station, ohne dass ich die Schritte erneut vernommen hatte, und nahm die East London Line bis Rotherhithe, meiner Endstation. Von dort aus benötigte ich etwa fünfzehn Minuten, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Als ich das Lagerhaus in der Gainsford Street erreichte, vernahm ich das Heulen zum letzten Mal, nun aber in nächster Nähe. Ich drehte ruckartig den Kopf in Richtung der Geräusche. Stille. Der Regen hämmerte auf die Straße, von überall her war leises Plätschern zu vernehmen. Ich spähte die Straße hinunter. Ich fühlte den schnellen Schlag meines Herzens im Kopf widerhallen und bemerkte, dass meine Hände zitterten. Es gelang mir nicht, etwas Ungewöhnliches zu entdecken, und so setzte ich das letzte Stück meines Weges fort. Am Lagerhaus angekommen, konnte ich es mir nicht verkneifen, einen letzten Blick hinter mich zu werfen. Es war nicht das Geräusch von Schritten, das mich zusammenzucken ließ, sondern eine schattenhafte Erscheinung, die sich blitzschnell im Schatten einer angrenzenden unbeleuchteten Gasse verbarg. Wie ein durchsichtiger Mensch, den der Wind durch die Gasse wehte, so sah die Erscheinung aus. Wie angewurzelt stand ich da und starrte in die Dunkelheit. Ich war mir sicher, nicht das Opfer einer Täuschung zu sein. Doch was, in aller Welt, sah aus wie ein durchsichtiger Mensch? Mit zitternden Händen öffnete ich die Tür, ließ sie hinter mir ins Schloss fallen, rannte die Treppe hinauf und machte nicht eher Halt, bis ich mich in meiner Wohnung befand, die Tür hinter mir sorgsam verriegelt und ich selbst schwitzend und außer Atem.
    Was immer dieses Heulen auch verursacht haben mochte – am nächsten Morgen war die Neuigkeit jedenfalls der Aufmacher in allen Medien. In der Nacht hatte sich ein weiterer Mord zugetragen, dem Muster der

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