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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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vorangegangenen Verbrechen ähnelnd. In den frühen Morgenstunden hatten Angestellte der London Regional Transport die blutleere Leiche einer jungen Frau auf den Treppenstufen der Liverpool Street Station gefunden. Ich vernahm die Nachricht während des Frühstücks und begann mich zu fragen, was mit meinem Leben geschah, in welche Geschehnisse ich da hineingezogen wurde. Vielleicht aber suchte ich auch dort nach Zusammenhängen, wo keine zu finden waren. Unterwegs zur Arbeit lauschte ich den Gesprächen der anderen Fahrgäste in der U-Bahn.
    In der Kanzlei angekommen, stürzte ich mich voller Tatendrang in meine Arbeit. Um die Mittagszeit steckte Miles Sheridan den Kopf in mein Büro.
    »Du siehst elend aus!« Wenn es etwas gab, was Miles Sheridan unmöglich war, so war dies, seine Herkunft zu leugnen. Geboren in Dublin als Sohn eines Automechanikers, sah Miles aus, als hätte er das Licht der Welt erblickt, um Barkeeper in einer Kneipe zu werden. Auf dem kleinen, kräftigen, gedrungenen Körper saß ein eckiger Schädel, gekrönt von rötlichem, gelocktem, kurzgeschnittenem Haar. Eng zusammenliegende, zusammengekniffen wirkende Augen, kleine Ohren und die platte, breite rote Nase über den dünnen Lippen und dem markanten Kinn taten ihr übriges, um diesen Eindruck zu festigen.
    Ich sah ihn in mein Büro poltern, rieb mir müde die Augen und unterdrückte ein Gähnen.
    »Hallo, Miles.«
    »Was machst du gerade?«
    »Die Immobiliensache aus Hounslow East.«
    »Klingt spannend.« Er grinste. Er sah aus wie ein Mechaniker, aber nicht wie ein Anwalt.
    »Was führt dich her?«
    »Es ist Mittagszeit«, verkündete Miles und klopfte sich auf den Bauch.
    »Oh. Ist mir im Eifer des Gefechts völlig entfallen.«
    Demonstrativ zauberte er hinter seinem Rücken einen
    Dartspfeil hervor. »Rituale sollten nicht in Vergessenheit geraten«, gab er mir mit einem Grinsen zu bedenken. »Dennoch verstehe ich deine Sorge. Während der letzten Runden hast du einiges einstecken müssen«, fügte er herausfordernd hinzu, »und nebenbei bemerkt, siehst du arg mitgenommen aus. Was, zur Hölle, hast du letzte Nacht getrieben?«
    Ich brachte es auf den Punkt: »Ich habe kaum geschlafen. Bloß gegrübelt.«
    »Darf man erfahren, worüber?«
    »Du darfst raten«, schlug ich vor. »Über das Leben, die Liebe.« Nach einer kurzen Pause fügte ich vielsagend hinzu: »Und eine Frau.«
    »Drei Dinge, von denen du absolut nichts verstehst.« Er schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. Dann deutete er mit einer wissenden Kopfbewegung auf meinen Schreibtisch. »Du vergräbst dich also wieder in Arbeit.« Er kannte mich wirklich gut.
    »Gehen wir essen«, schlug ich ausweichend vor. Miles war sofort überredet. Entlang der Fleet Street gibt es unzählige Cafés und Restaurants. Dort nahmen wir für gewöhnlich unser Mittagessen zu uns. Daran schloss sich dann meistens ein kurzes Dartsspiel in Miles’ Büro an.
    An diesem Tag erzählte ich von Leonore.
    »Du bist verknallt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Manchmal wunderte es mich, mit ihm über diese persönlichen Angelegenheiten derart offen sprechen zu können. Miles war Anfang Fünfzig, verheiratet mit einer schönen walisischen Botanikerin und Vater einer fünfzehnjährigen Tochter. Sein Leben war von dem meinen so weit entfernt wie Henry VIII. vom Idealbild des vorbildlichen Ehegatten.
    »Wie ist sie denn?«
    »Alt genug.«
    »Und?«
    »Sie ist geheimnisvoll.«
    »Sie möchte sich bloß interessant machen«, mutmaßte er. Ich war mit dem Werfen an der Reihe. »Du lässt dich wieder ablenken«, kommentierte Miles meinen Wurf. Als Rat gab er mir sodann die weisen Worte mit auf den Weg: »Warte einfach ab, was passiert.« Anschließend festigte er seinen ohnehin schon kaum aufholbaren Punktevorsprung mit einem letzten Wurf. »Der Sieg ist wieder einmal der meine«, freute er sich und warf mir ein Grinsen entgegen, welches von gespielter Schadenfreude nur so strotzte.
    »Verdammter Ire«, entgegnete ich. Er ließ sich von meiner Antwort nicht aufziehen. »Wir Iren haben es eben im Blut«, stellte er trocken fest. Dem war nichts hinzuzufügen.
     
    Abends dann …
    Ich war eingenickt, trieb zu den Klängen von Faurés Cantique de Jean Racine durch einen wirren Traum.
    »Ich sagte doch, wir würden uns wiedersehen.« Schlag Mitternacht war kaum verhallt, als Leonore erneut in mein Leben trat, mit funkelnden, wachen Katzenaugen im Türrahmen stand, gekleidet in Mantel und Hut, einem vorbeihuschenden

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