Nimmermehr
die Gerüchte lauter, dass sich der König immer mehr von sich selbst entfremde. Die Herren im fernen München mutmaßten, der König sei einer Geisteskrankheit erlegen. Immer seltener kam er den Regierungsangelegenheiten nach. Man hörte Geschichten von seltsamen Kreaturen, die man in den Wäldern nahe Bad Ischi in den Wäldern erlegt hatte. Auch sollte es ein Dorf in den Bergen geben, aus dem alle Einwohner verschwunden seien, nachdem Ludwig während einer Wanderung dort gewesen sei. Man munkelte, der König sähe aus wie ein Tier. Er habe mit wirrem Haar, wildem Blick und geschwärzten Zähnen eine Abordnung aus München empfangen.
All diese Neuigkeiten machten meine Befürchtung zur Gewissheit. Ich hatte meinen lieben Cousin zu einem Schatten gemacht. Er war zu einer Kreatur geworden, die die Bauern des Iszten Szek als Vrolok bezeichnen. In meiner Selbstsucht und meinem Machthunger hatte ich geglaubt, ich könne ihn zu meinem Sohn, meinem treuen Gefährten machen. Doch war ich meinen Instinkten erlegen und hatte von seinem Blut getrunken.
Leider kann man Geschehenes selten rückgängig machen.
Was bleibt, ist tiefes Bedauern.
Zuletzt sah ich Ludwig, wie sein von Irrsinn gezeichnetes Gesicht aus einem Turmfenster auf mich hernieder starrte. Der arme Adler hoch über mir versteckte sich in der Dunkelheit vor seiner liebreizenden Möwe. Es war an einem unfreundlichen Herbsttag, als ich mit Ida in Neuschwanstein eintraf und man uns freundlichst mitteilte, dass der König zwar anwesend, jedoch unwillig sei, die Gäste zu empfangen. Nichtsdestotrotz sollten wir uns in seinem Schloss wie zuhause fühlen. Voller Entsetzen glaubte ich, Tränen in den wilden Augen zu erkennen. Doch selbst jetzt, da Ludwig dem Irrsinn so nahe war, fühlte ich mich ihm verbunden. Noch immer liebte ich ihn. Als meinen Cousin und Sohn.
Ich frage Sie: haben Sie nie bemerkt, dass bei Shakespeare die Wahnsinnigen die einzigen Verständigen sind? So weiß man auch im Leben nicht, wo die Vernunft und wo der Wahnsinn sich findet, so wie man auch nicht weiß, ob die Realität der Traum oder der Traum die Wirklichkeit ist. Immer stärker neige ich dazu, jene Menschen für vernünftig zu halten, die man wahnsinnig nennt. Ist es denn nicht ein Faktum, dass man die eigentliche Vernunft oft für gefährliche Verrücktheit hält?
Doch schweife ich wieder ab.
Sie wollen das Ende der Geschichte hören. Nun gut – hier ist es: Ludwig wurde entmachtet, seiner Würden enthoben. Man glaubte, dass sein Irrsinn die Folge des Erbes sei. Man verhaftete ihn in Neuschwanstein und setzte ihn in einer Villa am Starnberger See gefangen. Die Ärzte berichteten, wie er dort auf dem Boden herumgekrochen sei, um Kakerlaken zu fangen. Einmal sogar habe er versucht, einem seiner Jagdhunde in die Kehle zu beißen. Doch dann habe sich sein Verhalten geändert. Er sei ruhig geworden, zuvorkommend und habe sich vollkommen gesittet verhalten. So gelang es ihm, die Erlaubnis zu erhalten, in Begleitung eines Arztes kurze Spaziergänge zu unternehmen.
Er täuschte sie alle. Es gab nicht einmal einen Abschiedsbrief. Letzten Endes zog man seinen Leichnam aus den Fluten des Starnberger Sees. Am Ufer fand man den geschundenen Körper des armen Arztes, der ihn begleitet hatte. Etwas hatte ihm die Kehle zerfetzt, und seine Gedärme fand man verstreut inmitten des hohen Grases. Eine Tatsache, die man natürlich vor der Öffentlichkeit zu verbergen wusste.
Ludwig war aus freiem Willen in den Tod gegangen. Und nun sagen Sie mir: Wo liegt die Grenze zwischen Wahnsinn und Verstand? Wo hört die Ordnung auf im menschlichen Geist? Ludwig war zwar zu einem Schatten geworden, doch hatte er sich nicht im letzten Moment einen Funken der Vernunft bewahrt? Ich konnte seine Verzweiflung spüren. Er hatte seinem Instinkt nachgegeben und den Arzt angefallen. Doch musste er im selben Augenblick erkannt haben, was aus ihm geworden war. Dieser Gedanke, so angefüllt mit Ekel und Abscheu vor sich selbst, hatte ihn dann den einzigen Weg gehen lassen, der ihm noch geblieben war: hinein in die Fluten.
Mein armer Sohn – ich trauerte um ihn. Doch sagen Sie mir: War ich grausam? Hatte ich nicht ihm die Wahl gelassen? Hätte er seinem Wahnsinn nicht ein Ende machen können, indem er mir zugestimmt, mein großzügiges Angebot angenommen hätte? Er hatte die Möglichkeit gehabt, freiwillig zu einem der unsrigen gemacht zu werden. Traf mich etwa eine Schuld, weil er dieses Geschenk ausgeschlagen hatte?
Ich
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