Nimue Alban: Der Kriegermönch: Roman (German Edition)
Welche Versuchung! Ich hätte besser an das alte Sprichwort denken sollen: ›Charisianer, die Geschenke bringen …‹! Leider hat selbst Phylyp mich nicht gewarnt, wie verlockend es ist, zu verstehen, wie Gott und die Erzengel die Welt gestaltet haben.
Ja, genau jener Wahrheit in all ihrer Schönheit hätte sie gern nachgespürt. Rasch, vielleicht zu rasch, hatte Irys sich davon befreit, in der Hochschule den Hort von Gottlosigkeit und Unreinheit zu sehen. In ihren Augen schmälerte nichts von dem, was Dr. Mahklyn oder die anderen Gelehrten der Hochschule herausgefunden hatten (und immer weiter erkundeten), die Herrlichkeit des Werks Gottes und der Erzengel. Im Gegenteil: sie offenbarten in den atemberaubenden Feinheiten der Regeln und Gesetze die Komplexität dessen, was an Wundern und berauschender Schönheit Gott geschaffen hatte. Wie könnte Gott, der dem Menschen Verstand geschenkt hatte, nicht wollen, dass der Mensch die herrlichen Wunder erkundete, mit denen Er Seine Kinder umgab?
Irys blickte auf den Stickrahmen in ihrem Schoß hinab und stellte fest, dass sich ihre Finger nicht mehr bewegten. Sie fragte sich, wie lange sie schon so dagesessen hatte. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben und Sharleyans oder Lady Mairahs Blick zu begegnen.
Das , dachte sie, nennt man wohl eine Offenbarung. Komisch, ich habe mich schon immer gefragt, wie sich so etwas anfühlt. Jetzt hatte ich selbst eine … und weiß es immer noch nicht.
Sie umklammerte den Stickrahmen. Die Finger, die Hände, die ihr vertraut sein sollten, schienen einer Wildfremden zu gehören. Oder war Irys nur winziger Teil einer Welt, die sich zwischen zwei Atemzügen völlig verändert hatte?
Genau darum geht es doch in Wirklichkeit, oder? Irys’ Augen schwammen plötzlich in Tränen. Eine Vielzahl von Empfindungen stürzte auf sie ein: Verwunderung, Entsetzen, Freude und eine sonderbare Hochstimmung. Clyntahn und die Inquisition mögen ja noch so oft behaupten, Charis habe sich dem Unreinen und Verbotenen verschrieben, aber das ist eine Lüge! Es ist nichts Unreines daran, die Welt in all ihrer atemberaubenden Komplexität verstehen zu wollen. Die ganze Welt ist ein Abbild Gottes, und Menschen wie Dr. Mahklyn, Dr. Brahnsyn und Dr. Lywys wollen doch nichts anderes, als dieses Abbild deutlicher erkennen. Was kann daran verderbt oder falsch sein? Wenn Charis und seine Kirche hier recht haben, können sie sich dann täuschen, wenn sie erklären, sterbliche Menschen hätten Mutter Kirche in die Finsternis geführt, Menschen wie Zhaspahr Clyntahn? Das war doch nicht Gottes Werk! Die Kirche von Charis verehrt nicht Tod und Zerstörung. Ihr geht es um Leben und Liebe, um Verständnis und Anerkennung … und um Toleranz, die selbst den Feinden zugestehen, zu glauben, was ihr Gewissen verlangt. Was auch immer Clyntahn denkt: die Menschen von Charis feiern die Freude Gottes. Sie sind nicht Teil der Dunkelheit, der sich der Großinquisitor verschrieben hat. Aber selbst wenn die Menschen von Charis sich von Proctor oder gar Shan-wei haben verführen lassen, würde ich lieber zusammen mit diesen Menschen in die Hölle fahren. Denn sonst säße ich zusammen mit Zhaspahr Clyntahn zur Rechten eines Gottes, der in gleicher Weise urteilt wie dieser Unmensch in Zion.
Erst eiskalt, dann heiß durchfuhr es Irys, kaum dass sie diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte. Und doch war es wahr. Ein altes Sprichwort ging ihr durch den Kopf: ›An ihren Freunden sollt ihr sie erkennen.‹ Bebend holte Irys Luft. Sie fragte sich, wohin diese neue Erkenntnis sie wohl führen würde und welches Schicksal sie und ihren Bruder erwartete.
Dann hob sie den Kopf, und ihr Blick suchte die Wyvern, die dem Schiff folgten. Sie beobachtete, wie sich die Tiere mit ausgebreiteten Schwingen vom Wind tragen ließen. Gottes Werk war schön, oh ja! Wind strich ihr übers Gesicht, zupfte an ihrem Haar und erfüllte alles rings um Irys mit ungeahntem Leben, mit Bewegung und Kraft, mit reiner Energie. Jeden Tag waren die Wyvern dem Schiff gefolgt. Es war etwas Alltägliches. Und doch war es ungewöhnlich und wunderbar.
»Irys?« Sie wandte den Blick von den Wyvern ab, als Sharleyan sie leise ansprach. »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich die Kaiserin.
»Ich …«
Irys stockte, legte den Stickrahmen beiseite und wischte sich mit beiden Händen die Tränen von den Wangen – Tränen, die Irys nicht einmal bemerkt hatte. Bebend schüttelte sie den Kopf.
»Ich … keine Ahnung, Eure Majestät«,
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