Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
Augenblick hatte sich Merlin zwar mit deutlich drängenderen Problemen zu befassen, aber genau diese Überlegungen waren der Grund dafür, dass er Zhansyn Wyllys so genau im Auge behielt. Wyllys’ Familie hatte sich mit der Gewinnung und dem Verkauf von Seedrachenöl beachtlichen Wohlstand erwirtschaftet. Im Zuge kommerzieller Seedrachenölgewinnung waren recht moderne, ausgefeilte Destillationsprozesse ersonnen worden. Doch all diese Errungenschaften beruhten ausschließlich auf Empirie. Das Bedürfnis, die bereits bekannten Methoden zu begreifen und zu verbessern, hatten den jungen Zhansyn überhaupt erst dazu gebracht, sich diesem sehr eigenen Zweig der Proto-Chemie zuzuwenden. Während sein Interesse wuchs und er immer neue Experimente durchführte, hatte sich sein Fokus indes ein wenig verschoben: Mittlerweile ging es ihm nicht mehr nur darum, die bereits bekannten Prozesse zu verbessern, sondern auch darum, alternative – und hoffentlich deutlich ergiebigere – Ölquellen zu finden.
Eher konservativ eingestellte Charisianer wie Wyllys’ Vater betrachteten diese Anstrengungen mit Argwohn. Dahinter standen nicht nur religiöse Bedenken. Styvyn Wyllys’ Reichtum und das Wohlergehen seiner ganzen Familie hingen von der Jagd auf Seedrachen ab. Daher war er nicht gerade begeistert von den Bemühungen seines rebellischen Nachkommen, plötzlich andere Ölquellen zu erschließen. Er war nicht glücklich mit Zhansyns Vorschlag, hätte man diese neuen Quellen erst einmal gefunden, könnte man einfach den Namen der Firma – ›Wyllys’ Seedrachenöl‹ – entsprechend ändern und die neue Ölindustrie von Grund auf mitgestalten.
Doch wie auch immer Styvyn Wyllys über diese Sache dachte, an sich waren Charisianer schon immer Neuerungen gegenüber deutlich aufgeschlossener gewesen als Festlandsbewohner. Im Laufe der letzten Jahre hatte das noch deutlich zugenommen. Die Königliche Hochschule unterstützte Zhansyns Bemühungen nach Kräften, nicht zuletzt dank des Einflusses, den der Innere Kreis ausübte. Angefangen hatte Zhansyn damit, konventionelle Pflanzenölquellen zu erkunden – Ölholz, Feuerranke und Fastpalme, dazu auch einige von Terra importierte Pflanzenarten: Sojabohnen, Erdnüsse und Jojobasträucher. Mittlerweile konnte er schon einige beachtliche Erfolge auf dem Gebiet der Gewinnung und Raffination für sich verbuchen. Darüber hinaus stand er kurz davor, so meinte Merlin zumindest, die Gewinnung von Kerosin aus Steinkohlenteer zu entdecken. In den südlichen Regionen von Charis und Emerald gab es ausgedehnte Ölfelder. Die Bohr- und Pumptechniken auf Safehold – bislang für die Trinkwassergewinnung genutzt – waren bereits recht fortschrittlich und würden dank Howsmyns neuen Dampfmaschinen schon bald noch deutlich verbessert werden können. Alles zusammengenommen gab das Merlin Anlass zu der Hoffnung, schon bald die Geburt eines neuen Industriezweigs erwarten zu dürfen, der zahlreiche interessante Möglichkeiten böte. Immerhin war der Energiegehalt von Erdöl fünfzig Prozent größer als der von Kohle.
Doch im Augenblick interessierte Merlin vor allem die Möglichkeit, Petrolat in verwendbaren Mengen zu gewinnen: Mengen, die ausreichten, um beispielsweise als Stabilisierungsmittel für Treibmittel und Explosivstoffe auf Nitrocellulose-Basis zu dienen. Wenn Merlin den richtigen Personen gegenüber zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Andeutungen fallen ließe …
»Ich weiß nicht, ob überhaupt schon jemand darüber nachgedacht hat, was sich mit Wyllys’ neuesten Errungenschaften alles erzielen ließe«, sagte Mahklyn nach langem, nachdenklichem Schweigen. »Ich sehe in seiner Arbeit wirklich großes Potenzial. Aber ich weiß nicht, wie Wyllys über die ›Vierer-Gruppe‹ und die Reformisten denkt. Wisst Ihr hier mehr?«
»Ich weiß auch nicht so viel, wie mir lieb wäre. Aber das, was ich weiß, gibt mir Anlass zur Hoffnung – nicht zuletzt, weil Zhansyn Wyllys und sein Vater in dieser Hinsicht ganz offenkundig unterschiedlicher Ansicht sind. Aber bloß weil er genauso nach neuen Erkenntnissen strebt wie der Rest von Euch ›Eierköpfen‹, ist er nicht unbedingt schon ein Reformist. Und selbst wenn doch, ist es immer noch etwas anderes, ob man reformistisches Gedankengut hegt oder voll und ganz bereit ist, die Heilige Schrift und die ›Erzengel‹ vollständig abzuschreiben. Aber wir können ja einige von Owls Fernsonden auf ihn ansetzen und ihn genau unter die Lupe nehmen, bevor
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