Ninotschka, die Herrin der Taiga
Zellen!« schrie der Hauptmann. »Meine Damen, gehen Sie ins Haus. Warum muß alles erst gewaltsam geschehen!«
»Man sollte ihn erschlagen!« rief einer der Gefangenen. In dem allgemeinen Durcheinander wußte keiner, wer es gewesen war.
»Rennt ihn einfach um!« schrie ein anderer.
»Hängt ihn an den Türpfosten!«
»Die Gewehre entsichern!« brüllte der Hauptmann. Der junge Hornist, der eben das Trompetensignal gegeben hatte, blies wieder. Die Männer fluchten, die Frauen weinten laut – es war ein Höllenlärm.
Fürst Trubetzkoi sah zum letztenmal seine Frau an. In seinem Blick lag sein ganzes Elend und das Bewußtsein seines Versagens.
»Ich wollte nur das Beste«, wiederholte er.
»Ich weiß es, mein Liebster«, antwortete die Fürstin. »Aber Rußland hat nie begriffen, was das Beste für es ist.«
Die Soldaten drängten die Gefangenen aus dem Innenhof. Eine andere Gruppe nahm die weinenden Frauen in die Mitte und führte sie zur anderen Seite hinaus. Noch einmal blickte Ninotschka zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte Borja.
Sie sah seine hohe, schlanke Gestalt in der Nähe der dritten Tür, eingekeilt zwischen vier Soldaten. Auch er schaute sich noch einmal um, und so sahen sie sich noch einmal mit einem langen Blick an, ehe beide endgültig hinausgeschoben wurden.
In einem anderen großen Festungshof wartete General Lukow auf die Frauen. Sie hatten sich inzwischen ein wenig gefaßt, die tränenüberströmten Gesichter abgewischt und kamen ihm jetzt mit hocherhobenen Häuptern entgegen. Wie immer wurden sie von der Fürstin Trubetzkoi angeführt. Gleich hinter ihr ging Ninotschka Pawlowna Koschkina, eingehüllt in ihren langen Weißfuchsmantel.
Lukow grüßte militärisch knapp. »Das war alles, was ich für Sie tun konnte«, sagte er. »Es war ein Gnadenbeweis des Zaren. Jetzt muß ich Sie bitten, die Festung wieder zu verlassen. Falls Sie wieder vor dem Tor kampieren, wird es von einem Ukas des Zaren abhängen, was mit Ihnen geschieht.«
»Er soll uns gewaltsam wegtreiben lassen«, entgegnete die Fürstin Trubetzkoi.
»Das wäre unklug, Madame.« General Lukow blickte über die Frauenschar. Der unaufhörlich fallende Schnee bedeckte sie wie ein Spitzentuch. »Ein Gerücht vom Hofe sagt, daß man Ihnen erlauben wird, alle vierzehn Tage die Gefangenen zu sehen. Erzürnen Sie den Zaren, wird das nie wahr werden.«
»Gehen wir, Schwestern.« Die Fürstin Trubetzkoi wandte sich dem leerstehenden Pferdestall zu, wo sie auf Matratzen, unter alten Decken, im Licht von Petroleumlampen gehaust hatten. »Wir haben unsere Männer gesehen und wissen jetzt, was wir zu tun haben.«
Zwei Stunden später verließen die Frauen die Peter-Pauls-Festung. Sie hatten beschlossen, zu Hause auf den Ausgang des Prozesses zu warten – und auf die Gnade des Zaren.
Nach einer Woche gelang es Ninotschka, ohne Wissen ihres Vaters den Zaren Nikolaus I. in einer Privataudienz zu sprechen.
Der Erste Kammerherr des Kaisers, ein Graf Podmansky , der ein Vetter von Ninotschka war, half ihr dabei.
In einer guten Stunde – Nikolaus I. hatte am Kamin gesessen und ein Glas grusinischen Kognak getrunken – war Podmansky vor ihm niedergekniet und hatte gesagt: »Majestät, ich hatte nie davon Gebrauch machen wollen … aber erinnern sich Majestät an den Tag, an dem ein Wahnsinniger auf Majestät schoß? Ich habe dem Kerl den Kopf abgeschlagen.«
»Ich war damals neunzehn Jahre alt.« Der Zar hatte Podmansky ein Zeichen gegeben, aufzustehen. »Natürlich erinnere ich mich daran. Gawril Klimentejewitsch. Ich habe gesagt: Für diese Rettung darfst du dir einmal im Leben etwas Besonderes wünschen.«
»Der Tag ist gekommen, Majestät.«
»Und dein Wunsch?«
»Empfangen Sie für ein paar Minuten Ninotschka Pawlowna Koschkina.«
Der Zar hatte Graf Podmansky angestarrt, hatte sich brüsk erhoben und war aus dem Salon gegangen. Aber er hatte den Wunsch erfüllt. Ein Page hatte Ninotschka einen Brief überbracht, daß der Zar sie sprechen wolle.
In diesen Tagen wohnte Ninotschka im Hause der Schneiderin Praskowja Philipowna. Nur ein paar Eingeweihte wußten davon. Graf Koschkin ließ seine Tochter seit dem Auszug aus der Peter-Pauls-Festung in ganz Petersburg suchen. Er bemühte sogar die Polizei, fuhr selbst mit dem Schlitten herum und suchte die Frauen auf, deren Männer eingekerkert waren und auf ihren Prozeß warteten.
Aber keine von ihnen gab Auskunft. Die Fürstin Trubetzkoi meinte, vielleicht schlafe
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