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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Einlaß wartenden Frauen.
    Graf Koschkin hatte dort auf sie gewartet. Hinter einer Säule trat er hervor und kam langsam auf Ninotschka zu. Er war alt geworden, weißhaarig und nach vorn gebeugt. Den starken, brüllenden Pawel Michailowitsch gab es nicht mehr. Mit leiser Stimme sprach er seine Tochter an.
    »Komm zurück, Töchterchen.«
    »Nein.«
    »Du kannst in deinem Elternhaus auf Borja warten. Warum versteckst du dich? Du brichst deiner Mutter und mir das Herz.«
    »Und Miron Fedorowitsch? Und Katharina Ifanowna?«
    »Niemand wird sie bestrafen. Es soll alles vergessen sein. Sieh mich an, ich bin ein alter Mann geworden vor lauter Kummer.«
    Ninotschka nickte stumm. Dann fiel ihr Kopf gegen die Schulter des Vaters. Sie umfaßte den gebeugten Körper und drückte ihn an sich. »Ich komme mit«, schluchzte sie. »Aber ich werde sterben, wenn der Zar Borja erschießen läßt.«
    Am 12. Juli 1826 fällte das Sondergericht das Urteil. Kuriere hetzten in die Gefängnisse, um es den Gefangenen mitzuteilen. Nicht nur Rußland – die ganze Welt hielt den Atem an. Wie nahm der Zar Rache?
    Und dann legte sich lähmendes Schweigen über das riesige Land. Denn die Rache des Zaren war fürchterlich.
    Borja Stepanowitsch Tugai wurde am frühen Morgen vom Rasseln der Schlüssel geweckt, die seine Zellentür aufschlossen. Er blieb auf seiner Holzpritsche liegen, zog den Uniformmantel, mit dem er sich zugedeckt hatte, über den Kopf und stellte sich schlafend.
    Stiefel stampften in die Zelle, die Tür schlug gegen die Wand, die Dielen knarrten, als habe sich der kleine Raum mit vielen Menschen gefüllt.
    »Leutnant Tugai, stehen Sie auf!« sagte eine befehlende Stimme. Borja kannte sie. Sie gehörte Major Bulganow, dem stellvertretenden Kommandanten. Bulganow war ein dicker, gemütlicher Mensch, mit dem man reden konnte und der tief im Herzen verborgen viel Sympathie für die Dekabristen hegte. Daß er jetzt in so scharfem Ton sprach, mußte einen schlimmen Grund haben.
    Tugai warf den Mantel zur Seite und blinzelte in das helle Morgenlicht. Draußen zog ein herrlicher Tag herauf. Die Sonne flutete in breiten Bahnen durch das kleine Gitterfenster. In den Parks rauschten jetzt die Springbrunnen, auf der Newa glitten die Segelboote durch das tiefblaue Wasser, über Petersburg spannte sich ein Himmel wie aus Seide.
    Major Bulganow stand vor dem Bett und sah Tugai mit einem langen, traurigen Blick an. Hinter ihm wartete der Untersuchungsrichter Saborow mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht. Er reichte einem langen, dürren Menschen eine Mappe, der sie aufklappte und tief Luft holte.
    Ohne daß der Mann sich vorzustellen brauchte, wußte Tugai, daß er ein Abgesandter des zaristischen Sondergerichts war. Die Urteile waren also gefällt worden, ohne die Angeklagten selbst anzuhören. Der Zar hatte Recht gesprochen, und was er sagte, war für Rußland so unantastbar wie das Wort Gottes.
    »Erheben Sie sich, Borja Stepanowitsch«, sagte Bulganow mit plötzlich belegter Stimme.
    Tugai stand auf. Er zog seinen zerrissenen, schmutzigen Uniformrock zurecht, so gut es ging, und strich sich mit den Händen über das Haar. An Saborow, der Ratte, sah er vorbei. Borjas Blick blieb an der Zellenwand hängen, in deren Verputz während der vergangenen Jahre die Gefangenen mit ihren Fingernägeln ihre Namen, Flüche oder Gebete hineingeritzt hatten. Gott sei mit Rußland, hatte ein Unbekannter geschrieben. Aber wo ist Gott?
    »Der Zar gibt das Urteil bekannt.« Der lange, dürre Mensch im schwarzen Anzug räusperte sich und blickte Tugai über seine Brille hinweg an. »Borja Stepanowitsch Tugai, Leutnant der Gardekavallerie, 1. Schwadron …«
    »Zur Stelle!« antwortete Borja laut.
    »Unser allergnädigster Zar hat befunden, daß der Verrat an Gott, Vaterland und Zar ein abscheuliches Verbrechen ist. Das Sondergericht hat einstimmig beschlossen, Sie, Leutnant Tugai, wegen Ihrer Schuld mit dem Tode zu bestrafen.«
    Eine Weile war es völlig still in der Zelle. Bulganow atmete schwer, Saborow grinste noch immer, die zehn Soldaten, die als Begleitung mitgekommen waren, blickten zu Boden.
    Borja nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Ich danke dem Zaren«, sagte er unbewegt.
    Der lange, dürre Mensch rückte seine Brille gerade und blickte wieder in die Mappe. »Der Zar in seiner großen Güte«, fuhr er fort, »hat die Gnade über das Recht gestellt. Er hat befohlen, die Todesstrafe umzuwandeln in eine Verbannung nach Sibirien auf zwanzig

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