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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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langen Gänge, durch prunkvolle Zimmer und Hallen, bis sie wieder in den kleinen Hof gelangten, in dem Miron mit dem Schlitten wartete. Der Kutscher hatte sich durch einen langen, falschen Bart unkenntlich gemacht, und der Schlitten mit dem armseligen knöchernen Gaul davor wirkte wie das Gefährt eines einfachen Mannes, in dem niemand die junge Komteß Koschkina vermutete.
    Ninotschka setzte sich in das auseinandergezerrte Stroh, schlug die Felldecke um sich, zog eine große Pelzmütze über den Kopf und gab Miron das Zeichen, abzufahren.
    Erst als sie den Winterpalast verlassen hatten und am Newa-Ufer entlangfuhren, zerbrach ihre Beherrschung. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen.

IV
    Bis zum Ende des Frühjahrs 1826 dauerten die Untersuchungen und Verhöre. Saborow, der Untersuchungsrichter, wurde zum gefürchtetsten Mann Rußlands. Er ließ die Dekabristen, bevor sie zum Verhör geführt wurden, verprügeln und foltern, brüllte sie hinterher an, ganz gleich, ob es Fürsten oder Generäle waren, und benahm sich wie ein leibhaftiger Teufel.
    Wenn es hieß: morgen Verhör bei Saborow, knirschten die Gefangenen mit den Zähnen und flehten Gott an, daß Saborow vorher der Schlag treffen möge.
    Aber endlich, am 30. Mai 1826, waren die Untersuchungen abgeschlossen. Dicke Aktenbündel wurden zum Zaren gebracht, doch Nikolaus sah sie gar nicht an. Er bestimmte dafür ein Sondergericht. Was er bis jetzt von den Verhören erfahren hatte – die weitgehenden Pläne seiner Gegner, die selbst seine Ermordung erwogen hatten, hatten ihn veranlaßt, kein normales Gericht über die Dekabristen urteilen zu lassen, sondern ›diesen ganzen Schmutz‹ – wie er es nannte – von einem Sondergericht ›in die Gosse kehren zu lassen‹.
    Am 1. Juni erfuhren die 121 Inhaftierten durch General Lukow, daß über ihr Schicksal in einer geheimen Verhandlung entschieden werde. Lukow las den Beschluß des Zaren mit gleichgültiger Stimme vor. Und als der Philosoph und Dichter Jefim Lobkonow ausspuckte und schrie: »Das soll ein Zar von Gottes Gnaden sein?« ließ er ihn von vier Soldaten verprügeln, ohne die geringste Gefühlsregung zu zeigen. Das Sondergericht setzte sich aus allen Ministern, Mitgliedern des Senats und des Staatsrates, einer Reihe hoher Würdenträger aus der Armee und der Kirche zusammen und versammelte sich hinter verschlossenen Türen. Es gab keine Verhandlung im üblichen Sinne. Kein Angeklagter wurde vorgeführt, kein Verteidiger sprach ein Wort – nur die Akten waren maßgebend – also das, was Saborow auf tausend Seiten niedergeschrieben hatte.
    »Ich will ein besonderes Urteil haben!« hatte Nikolaus I. befohlen. »Ein Urteil, das gerecht ist und dem Maße des Verbrechens Rechnung trägt.«
    Hieß das nun, die Offiziere zu erschießen und die Zivilisten zu erhängen? Oder sollte man auch die Offiziere unehrenhaft an den Galgen knüpfen, nachdem man sie zu Zivilisten degradiert hatte? Was hieß das – ein besonderes Urteil?
    In den langen Monaten des Wartens war ein neuer Beweis von der Güte des Zaren bekanntgeworden: Die Frauen der Gefangenen durften tatsächlich zweimal monatlich ihre Männer besuchen. Zwar standen sie noch immer hinter den hohen Maschendrahtzäunen, und die Wachmannschaften gingen in der Gasse hin und her, aber es gab kein Weinen und Schreien mehr. Man stand sich gegenüber, das Gesicht gegen den Draht gepreßt, und sprach miteinander über alle möglichen Dinge. Sogar über solche Unwichtigkeiten, daß die Deichsel der Kutsche im Frühjahrsschlamm draußen auf dem Gut viermal gebrochen sei und daß man einmal eine ganze Nacht auf der Straße habe verbringen müssen, weil der Stellmacher Wolochow – der Teufel hole ihn! – keine Ersatzdeichsel zu Hand gehabt hätte und sie erst mit drei Gesellen habe anfertigen müssen.
    Borja Tugai war noch magerer geworden in diesen Monaten. Seine Wunden waren verheilt, und die zerrissene Uniform hatte man ihm gelassen. Sogar die Rangabzeichen trug er noch, und die Wachsoldaten sprachen ihn mit ›Herr Leutnant‹ an, genauso wie man die gefangenen Generale mit ›Exzellenz‹ anredete, bevor man sie anbrüllte und zum Verhör trieb.
    Ninotschka aber schien noch schöner geworden zu sein. Als das Eis geschmolzen und die ersten Schwäne wieder in der Frühlingssonne auf der Newa schwammen, zog sie ihr schönstes Kleid an – mit weißer Spitze und seidengestickten Blüten – und reihte sich ein in die Reihe der vor der Festung auf

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