Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Jahre.«
    Es war, als falle plötzlich in den heißen Sommertag der eisige Sturm der unendlichen Taiga ein. Kälte durchzog alle, die diese Worte hörten. Major Bulganow kaute an der Unterlippe. Fassungslos starrte Borja Tugai den Abgesandten des Gerichts an.
    »Zwanzig Jahre Sibirien …«, sagte er leise.
    »Der Zar in seiner Güte …«
    »In seiner Güte?« schrie Tugai plötzlich auf.
    Alle zuckten zusammen. Die Vision der vereisten, riesigen Flüsse, des heulenden Schneesturms, der hungrigen Wolfsrudel und der undurchdringlichen Wälder verflog.
    »Güte? Warum tötet er mich nicht sofort? Warum will er mich zwanzig Jahre lang sterben lassen? Das ist eine durch nichts zu überbietende Grausamkeit! Major Bulganow, ich bitte um Papier und Tinte. Ich will dem Zaren schreiben. Ich bitte um meine Erschießung! Zwanzig Jahre Sibirien! Nie, nie! Eher renne ich mir den Schädel an der Wand ein!«
    »Beruhigen Sie sich, Borja Stepanowitsch.« Bulganow wischte sich mit bebenden Händen über das Gesicht. »Man kann auch Sibirien überleben.«
    »Kennen Sie einen, der zwanzig Jahre überlebt hat?«
    Bulganow schwieg. Er hatte noch niemanden zurückkommen sehen aus der Taiga, mit Ausnahme einiger Mönche, der Handelskarawanen und Soldaten. Deportierte verschwanden in der unendlichen Weite der Landschaft, als seien sie nur Wassertropfen, die ein riesiger Schwamm aufsaugt.
    »Ich will erschossen werden!« schrie Borja wieder. »Das ist keine Gnade, das ist eine Teufelei des Zaren! Gott verfluche diesen Mörder!«
    »Ich werde diese Worte an Seine Majestät weitergeben«, sagte Saborow schleimig. »Diese Undankbarkeit! Man läßt Ihnen das Leben, und Sie verfluchen diese Güte.«
    »Wenn es einen Gott gibt, Saborow«, sagte Tugai bebend, »dann werden auch Sie eines Tages in Sibirien landen.«
    Der Untersuchungsrichter wurde bleich, drehte sich schroff um und verließ die Zelle. Major Bulganow winkte den Soldaten, gleichfalls zu gehen. Sie stampften hinaus, und auch der Abgesandte des Gerichts war froh, diesen Ort verlassen zu können. Ihm standen noch zwei harte Stunden bevor. E T hatte die Urteile allen Dekabristen zu verlesen, und Leutnant Tugai war der erste gewesen.
    »Was ist mit den anderen?« fragte Tugai, als er mit Bulganow allein war. »Trubetzkoi?«
    »Sibirien.«
    »Wolkonsky?«
    »Sibirien.«
    »Murawjeff?«
    »Sibirien.«
    »Lobkonow?«
    »Sibirien.«
    »Tschuschinsky? Abnojeff? Zynewsky?«
    »Zum Tode durch Erhängen verurteilt. Ohne Begnadigung.«
    »Die Glücklichen!« Tugai lehnte sich an die Wand. »Aber … erhängen …«, sagte er nach einer Weile kaum hörbar.
    »Es sind Zivilisten, keine Offiziere.«
    »Wer wird erschossen?«
    »Niemand. Sie werden alle erhängt.«
    »Und dieser Zar betet noch in einer Kirche, ohne daß ihm das Dach auf den Kopf stürzt!«
    »Wolltet ihr nicht auch töten?«
    »Nein. Wir wollten ihn nur absetzen und eine neue Verfassung proklamieren … im Sinne der französischen Aufklärung. Freiheit, Recht und Brüderlichkeit für alle Menschen! Ist das zuviel verlangt?«
    »Es ist eine Utopie, Borja Stepanowitsch.«
    »Mein Gott, wir sind doch alle Menschen!«
    »Aber was ist der Mensch in Rußland? Ihr wolltet ein Pferd satteln, das blind, lahm und taub ist. Daran seid ihr gescheitert.«
    »Geben Sie mir Feder und Papier, Major.« Tugai setzte sich an den kleinen wackligen Holztisch. »Ich muß dem Zaren schreiben. Ich verzichte auf die Gnade des langsamen Sterbens. Ich ziehe nicht in die Taiga. Von mir aus soll er mich wie die anderen aufhängen lassen.«
    Bulganow nickte und ging. Er kam nach zehn Minuten mit dem erbetenen Schreibzeug zurück.
    Das Urteil des Sondergerichts beschäftigte ganz Europa. Die wenigen Todesurteile wurden hingenommen – bei Landes- und Hochverrat haben Politiker immer viel Verständnis für Rache. Dagegen bewunderte man den Großmut des Zaren, den größten Teil der Aufständischen zu begnadigen und sie ›nur‹ in die Verbannung zu schicken. Der diplomatische Schachzug Nikolaus' I. zeitigte Früchte: Ein so edler Zar war ein willkommener Partner für ganz Europa. Wehte in Rußland wirklich ein moderner, freiheitlicher Geist? Die Urteile vom 12. Juli 1826 schienen es zu beweisen.
    Zwanzig Jahre Sibirien … Gut, die Taiga ist noch ein wildes Land. Da hat man im Sommer vierzig Grad Hitze und im Winter fast siebzig Grad Kälte. Unvorstellbar, aber immerhin auszuhalten. Wenn bereits Tausende an den großen Strömen und in den riesigen Wäldern lebten,

Weitere Kostenlose Bücher