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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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fragte sich, wer den besseren Teil erwählt hatte – diejenigen, die sterben mußten, oder die, denen man das Leben ließ, damit sie in den Weiten Sibiriens umkamen.
    Sibirien – das war ein anderes Wort für Hölle.
    Sibirien – das war ein unendliches, von riesigen Strömen und Sümpfen durchzogenes Land. Das waren Wälder, durch die man wochenlang reiten konnte. Das war noch ein Stück aus dem dritten Schöpfungstag, als Gott gesagt hatte: Die Erde bewachse sich mit Bäumen und Gräsern und die Flüsse tränken das Land.
    Sibirien – das war das letzte große Schweigen auf dieser Welt.
    Über eine Stunde dauerte die Degradierung der Verurteilten, das Zerbrechen der Degen, das Verbrennen der Röcke und Tuniken, der goldenen Litzen und Epauletten. Dann wurden auf einem Bauernkarren ein Haufen grauweiß gestreifter Sträflingskleider herangefahren. Die Henker rissen sie herunter und warfen sie wahllos den Verurteilten zu. Borja erhielt einen Kittel, in den er sich hätte einrollen können. Und der riesige Lobkonow zwängte sich in einen, der für einen Zwerg zugeschnitten worden sein mußte. Auch Trubetzkoi bekam zu enge Kleider, und Wolkonsky stolzierte durch die Reihen und zeigte mit bitterem Galgenhumor allen seine gestreifte Jacke, die wie ein halblanger Mantel aussah.
    »Antreten in Reih und Glied!« brüllte eine laute Kommandostimme. Die Militärkapelle spielte einen Marsch, wieder dröhnten die Trommeln, und die Verurteilten formierten sich und kehrten mit stolz erhobenen Häuptern in die Festung zurück. Und als sie über ihre zerbrochenen Degen marschierten, traten sie bewußt hart auf die Trümmer ihrer Ehre. Und Fürst Murawjeff gab jedem Degenstück, das vor ihm auftauchte, einen Tritt und schleuderte es weit weg.
    Langsam schlossen sich die Torflügel hinter den Dekabristen. Zum letztenmal waren sie unter freien Menschen gewesen – von jetzt an begann die Verbannung, das Leben der toten Seelen.
    Die Zuschauer auf dem Platz lehnten sich in die Polster ihrer Kutschen zurück und gaben ihren Kutschern das Zeichen davonzufahren. Die Offiziere ritten fort, die Abordnungen der Regimenter marschierten schweigend davon. Nur der französische Botschafter überwand den Schock dieser Stunde und sagte zu seinem Gast, einem Herrn aus Schweden:
    »Mon cher, dagegen war die Guillotine eine ausgesprochen humane Einrichtung!«
    Das Schauspiel vor der Peter-Pauls-Festung sprach sich schnell in Petersburg herum, so klein auch der Kreis derjenigen gewesen war, der ihm beigewohnt hatte.
    In den Palais der Verurteilten breitete sich eine unruhige Geschäftigkeit aus.
    Auch bei Graf Koschkin erschien der Kutscher Miron Fedorowitsch und bat darum, noch ein paar der großen Holzkoffer mit den Kleidern des gnädigen Fräuleins mitnehmen zu können.
    Koschkin ließ Miron in die Bibliothek bringen. Zum erstenmal in seinem Leben stand der bärtige Kutscher mit seinen groben Bauernstiefeln auf einem echten persischen Teppich. Man hätte sich die Schuhe ausziehen müssen, dachte er. Unter den Sohlen klebt noch Stallmist. Hinterher wird man mich ein Schwein nennen und durch das Haus prügeln.
    »Wo ist Ninotschka?« fragte Koschkin und blieb dicht vor Miron stehen. »Miron Fedorowitsch, ich gebe dir hundert Rubel …«
    »Soviel Rubel hat nicht einmal ein Zar, daß ich zum Verräter werde, Euer Hochwohlgeboren.« Der Kutscher senkte den breiten Schädel. »Ihr könnt mich schlagen, bis ich umfalle …«
    »Warum versteckt sie sich wieder vor mir? Warum ist sie nach der Verurteilung der Dekabristen zum zweitenmal bei Nacht und Nebel aus ihrem Elternhaus davongelaufen? Warum vertraut sie mir nicht? War ich ihr nicht immer ein guter Vater?«
    Koschkin lief in dem großen Zimmer auf und ab. Draußen, in dem kleinen Park, der bis an die Newa stieß, glänzte die Sommersonne auf Blütensträuchern und saftigem Rasen. Ein marmorner Springbrunnen plätscherte, umgeben von einem Kranz rotblühender Rosensträucher. »Du willst ihre letzten Kleider holen?« fragte der Graf.
    »Ja, Herr …«
    »Sie wird mit Borja nach Sibirien ziehen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Natürlich weißt du es, du Halunke.« Koschkin blieb stehen. »Ich könnte dich in Ketten legen lassen! Du bist mein Leibeigener! Du gehörst mir ganz allein! Du bist ein Nichts!«
    »Ich weiß es, Hochwohlgeboren. Aber es wird genug Kutscher geben, die zwei Pferde vernünftig lenken können.«
    »Also geht es doch nach Osten!« Koschkin ballte die Fäuste. Sein Gesicht zuckte.

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