Ninotschka, die Herrin der Taiga
»Ich werde den Zaren auf Knien bitten, diesen Wahnsinn zu unterbinden. Mit Gewalt sollen sie die verrückten Weiber zurückhalten! Ninotschka nach Sibirien … Ich werfe mich vor eure Kutsche, Miron! Wirst du über mich hinwegfahren? Wirst du das wirklich?«
»Ja, Euer Hochwohlgeboren.« Miron Fedorowitsch zögerte keinen Augenblick mit der Antwort. Dieses Ja konnte ihn den Kopf kosten, es konnte als eine Morddrohung gegen seinen Herrn ausgelegt werden. Daß Miron es trotzdem aussprach, bewies Koschkin, wie tief in dem Kutscher die Liebe zu seiner jungen Herrin verwurzelt war.
»Ich möchte Ninotschka noch einmal sprechen«, sagte Koschkin leise und trat an eine der hohen Türen, die auf die Terrasse führten. »Miron, ein alter, von Kummer gebeugter Vater bittet dich darum. Ich verspreche dir, wenn ich Ninotschka noch einmal sehen kann, bist du kein Leibeigener mehr. Dann schenke ich dir die Freiheit.«
Über Mirons Gesicht lief ein Zittern. »Ich bin dann keine ›Seele‹ mehr, Euer Hochwohlgeboren?« fragte er heiser vor Erregung.
»Nein. Du bist frei wie ich.«
»Die Platkows haben seit zwei Jahrhunderten den Koschkins gehört …«
»Ab morgen kannst du hingehen, wohin du willst. Nur führe mich zu meiner Tochter. Sag ihr, daß ich nichts von ihr will, als sie umarmen. Es wird die letzte Umarmung sein, Miron Fedorowitsch.«
»Ich will es versuchen, Hochwohlgeboren.« Der Kutscher ging zur Tür. Er bemühte sich, auf Zehenspitzen zu gehen, um den wertvollen Teppich nicht noch mehr mit seinen Stiefeln zu beschmutzen. »Ich komme wieder, wenn es genehm ist.«
»Zu jeder Zeit.« Koschkin wandte sich ab. In seinen Augen schimmerte es feucht, aber er schämte sich nicht, vor einem Leibeigenen zu weinen. »Auch in der Nacht. Immer, wann Ninotschka mich sehen will …«
»Ich werde sie überreden, das schwöre ich«, sagte Miron mit tiefem Ernst. »Bitte, Hochwohlgeboren, lassen Sie mich nicht verfolgen. Es kostet nur Zeit und hat keinen Zweck. Ich kann reiten wie der Graue Jäger …«
Koschkin nickte stumm. Der Graue Jäger – das war ein sibirisches Märchen von einem Mann, den Gott dazu verurteilt hatte, immer mit dem Wind um die Wette zu reiten.
»Ich warte, bis du wiederkommst«, sagte Koschkin dann leise.
VI
Wie im Palais Koschkin begann das große Packen auch bei den Trubetzkois, Wolkonskys und Murawjeffs. Zweiundvierzig Frauen waren bereit, mit ihren Männern nach Sibirien zu ziehen. Sie nahmen alles mit, was man für den Rest seines Lebens brauchte: vom Bettzeug bis zum Kochtopf, von der Teetasse bis zur Pelzdecke. Vor allem aber luden sie Werkzeuge in ihre Wagen, Sägen und Äxte, Zangen und Nägel, Eisendraht und Riegel, Stahlwinkel und dicke Stricke.
Die Fürstin Trubetzkoi nahm die halbe Waffensammlung samt Munition aus den Schränken ihres Mannes mit. Und Ninotschka ließ durch Miron drei gute Flinten kaufen, viertausend Schuß Munition und zwei große Reiterpistolen, wie sie Borja früher in seinen Satteltaschen gehabt hatte. So ausgerüstet, warteten die Frauen auf den Abtransport der Verbannten.
Da niemand wußte, wann der große Treck beginnen sollte, stellte man Wachen aus, die Tag und Nacht die Festungstore belagerten und durch Meldereiter sofort die wartenden Frauen alarmieren konnten. Die Wagen und Kutschen standen abfahrbereit, die Pferde erhielten das beste Futter; sie wurden kräftig und schäumten vor Übermut.
Aber sonst merkte in Petersburg kaum jemand, daß die mit Blut und Tränen geschriebene Geschichte Rußlands um ein Kapitel der Liebe bereichert werden sollte, wie es noch nie aufgezeichnet worden war. Über die Dekabristen sprach man kaum noch. Der neue Zar schien ein guter Zar zu werden. Das Ausland bemühte sich darum, Handelsbeziehungen mit Rußland anzuknüpfen. Die Handwerker bekamen genug zu tun, nur auf dem Land, bei den Bauern, änderte sich nichts. Sie schufteten für ihr kärgliches Brot, stöhnten unter den Steuereinnehmern oder lieferten als Leibeigene allen Überschuß ihrer Felder auf den riesigen Gutshöfen ab, wo die feinen Herrchen saßen, spielten, tranken und sich amüsierten.
Viel war in den vergangenen Wochen geschehen. Am 14. Juli hatte man die fünf zum Tode verurteilten Dekabristen gehängt. Dann hatte sich der Zar offiziell krönen lassen, und einen Monat lang hatte ganz Petersburg ihn als den von Gott eingesetzten Herrscher gefeiert. Tag für Tag hatten die Militärkapellen flotte Märsche auf den Straßen gespielt, die Stadt war mit Fahnen
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