Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
mindestens dreißig Zentimeter lang. In Auric stieg aus einer dunklen Tiefe, die nicht ihm allein gehörte, eine unerbittliche Ahnung hoch, was er da vor sich hatte, aber sein bewusster Geist weigerte sich, diesen unlotbaren Urgründen nachzugeben. Das kann nicht sein, durchfuhr es ihn, das ist unmöglich. Solche Dinge geschehen nicht wirklich. Solchen Geschöpfen begegnet man nicht auf dem festen Boden der Gegenwart. Die Bündel langer Spinnenfinger strichen aneinander und umeinander, tasteten in der Luft.
Mit dem Senphora wie einem Tanzpartner hinter seinem Schild eingeklemmt, sein Schwert auf die Kreatur gerichtet, folgte Auric einem Kreisbogen um sie herum, zur Tür hin, näher zu der Kammer, aus der er gekommen war und aus der auch dieses Wesen den Raum betreten haben musste. Er konnte sich jetzt vorstellen, dass die Kreatur, auch schon während er zum ersten Mal den Raum durchquert hatte, die ganzen Zeit unbeweglich zwischen all den bizarren Pfeilern mit ihren enervierend befremdlichen Körperdarstellungen im Halbdunkel gestanden hatte und er sie nicht bemerkt hatte.
Die Kreatur drehte sich um ihre Achse während ihre Augen, starr und bewegungslos auf Auric ausgerichtet, seinen Schritten folgten. Sie blinzelte. Diesmal mit der Heftigkeit eines Peitschenschlags, diesmal synchron.
Ebenfalls wie ein Peitschenschlag, in explosionsartiger Plötzlichkeit sog die Kreatur mit einem fauchenden Geräusch durch die Knorpelschlitze Luft in ihren Schädel. Auric erstarrte, nur sein Zwerchfell flatterte, Schweiß brach ihm aus. Mit einem ähnlichen fauchenden, schmatzenden Geräusch schoben sich die konzentrischen Muskelringe des Maules übereinander und auseinander. Das Maul schnappte auf wie ein röhrender Mahlstrom.
Auric blickte in einen rohen, runden Schlund, starrend vor Ringen spitzer, scharfer sich aufrichtender Zähne, Kreisreihe um Kreisreihe hintereinander, wie in einer Spirale ausgerichtet, wie in einem Strudel rasiermesserscharfen Reißens und Schlingens.
„Du – Bist – Asche!“
Kein tierisches unartikuliertes Fauchen kam aus diesem Mund, stattdessen diese drei Worte, tosend und durchdringend wie von einem Hochofen gebrüllt. Die Spinnenglieder der Hände spreizten sich tastend auseinander, zuckten und tanzten, als würden sie die Luft um sich herum falten. Blaues Feuer flirrte zwischen ihnen auf.
Den Senphoren gepackt rannte Auric los.
Ihre Flucht durch den Raum mit den Büchern, Folianten und der mit Tabellen vollgekritzelten Tafel hatte ihnen noch einen Aufschub gewährt, denn anscheinend hatte die Kreatur dort nichts zerstören wollen, doch nun erlegte sie den von ihr freigesetzten Kräften keine Zurückhaltung mehr auf.
Auric rannte geduckt im Schatten großer Mauertrümmer und stieß dabei den Senphoren vorwärts. Kaltes, scharfes Licht peitschte durch den Raum. Seine Haare knisterten, so dass er jeden Moment glaubte, von den entfesselten Kräften der Kreatur erfasst worden zu sein. Der Senphore vor ihm rutschte und stolperte auf einem Geröllhaufen, fiel hin, auf die Brust und auf sein Kinn, gab einen erstickten, klackenden Schmerzens- und Schreckenslaut hoch in der Kehle von sich. Ohne auf seinen Zustand zu achten packte Auric seinen Mantel kurz unter der Kapuze und riss ihn auf und weiter. Panisch, zunächst mit strauchelnden, Halt suchenden Schritten hielt er mit Auric mit, duckte sich wie er tief hinter die Steinbrocken.
Scharf und spröde wie ein Peitschenknall knackte der Stein der Pfeiler über ihnen, dort wo das tobende Zucken ihn traf.
Den Senphoren noch immer an einem Zipfel seines Mantels gepackt warf sich Auric hinter einen mächtigen Mauerstumpf, der jedoch in seinem zusammengebrochenen Zustand kaum noch Mannshöhe erreichte.
Im nächsten Moment brach Licht wie eine Sturzflut über die Mauerkrone hinweg, warf scharf und grell den Schattenriss von Mauerresten, Pfeilerreihen gegen die gegenüber liegende Wand. Ein lautes, ohrenbetäubendes Knacken, ein Splittern. Ein Pfeiler zerbarst in einer Trümmerwolke. Auric duckte sich zum Schutz gegen die umherfliegenden Splitter noch tiefer hinter den Mauerstumpf, sah unter dem Arm hervor, erkannte die Gefahr und riss den Senphoren erneut mit sich.
Eine Sekunde später donnerte ein gewaltiger Steinbrocken auf die Stelle, wo sie eben noch gehockt hatten und zermalmte die kleineren Trümmer. Wolken von Staub stiegen auf.
Die Zerstörung des Pfeilers hatte den Steinbrocken seines Haltes beraubt und herabstürzen lassen. Dies war
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