Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
seien sie eingehüllt von verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit und ihren Verschleierungen.
Es stellte anmaßende Fragen an einem seltsamen Ort.
Doch wo hätte er ihnen besser nachgehen können als hier. Es war ein Ort für Wahrscheinlichkeiten, für schwankende Gewissheiten, für Fragen und Geschichten.
„Sehen Sie“, hatte Darachel gesagt, als er nach seinem Kommentar über den unbekannten Epokrav-Text seine Überraschung überwunden hatte, „Sie wissen einiges über mein Thema, die Späten Feuerkriege, aber ich weiß kaum etwas über Ihre Welt und das Leben der Menschen in den jüngeren Ländern, über ihre Nationen, ihre Sitten, über ihre Träume und Ängste. Wir Ninraé haben uns sehr aus der Welt und ihren Belangen zurückgezogen. Es fällt uns schwer, das, was von dort draußen zu uns dringt, in einen Zusammenhang einzuordnen. Es sind andere Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, und andere Bereiche, die unsere Aufmerksamkeit mit Beschlag belegen.“
Dabei glitt sein Blick ins Leere und nahm einen Grad der Ernsthaftigkeit an, den Auric, bei allen Schattierungen dieses Ausdrucks auf seinem Gesicht, bisher noch nicht an ihm gesehen hatte.
Er glaubte Darachel, dass er kein Gefangener sei.
Er war mitten in der Nacht aufgewacht, allein im Raum. Er hatte sich zuerst einmal ins Gedächtnis rufen müssen, wo er war. Die schlanken Fenster, durch die er die Sterne sehen konnte, halfen ihm dabei. Eine Weile blickte er noch vom Schlaf umnebelt auf ihr flackerndes Licht hinaus.
Dunkel erinnerte er sich dabei daran, dass er Darachel bei seinem ersten kurzen Erwachen etwas hatte sagen hören. Sein Gesicht sei das eines Mannes aus dem Nordwesten. Aber das sei nur sein Gesicht. „Ich weiß nicht deinen Namen. Ich weiß nicht, wer du bist. Aber ich würde es zu gerne herausfinden.“ In Aurics Erinnerung hatte er es wie zu sich selber gesprochen.
„Es fällt uns schwer, das, was von dort draußen zu uns dringt, in einen Zusammenhang einzuordnen“, hatte er dann später zu ihm gesagt.
Vielleicht war dieser Darachel, dieses „Spitzohr“, der einzige, der jemals die ganze Geschichte seines Lebens hören sollte. Weil er wie ein leeres Blatt war, was das Leben der Menschen betraf. Weil er unbelastet und neugierig genug war, ihn bis zur Wahrheit kommen zu lassen, und er nicht schon vorher glaubte, ihn zu kennen und urteilen zu können.
Die ganze Geschichte. Bis zur Wahrheit.
Eine verlockende Aussicht.
Nicht einmal er selber war so weit gekommen.
Er hatte es geglaubt, aber ein Geist war an der Schwelle des Todes zu ihm gekommen und hatte ihm gezeigt, dass er sich darin geirrt hatte.
Er saß also des Abends bei dem Menschenmann Auric Torarea Morante, sie blickten auf den in Nacht versinkenden Himmel hinaus, und er las ihm wie versprochen die verschollen geglaubten Kapitel aus dem Ring der Neun vor.
Wenn er geendet hatte sprachen sie kurz miteinander über das Vorgetragene. Auric zitierte aus dem Gedächtnis Passagen aus dem Lied des Neuen Lichts . Zwischendurch entstanden immer wieder lange Pausen, in denen sie aus dem Fenster blickten, und Darachel spürte dass der Menschenmann ihn dabei in seiner ihm eigenen Art eindringlich musterte.
Am dritten Tag begann er schließlich zu erzählen.
Zweites Buch:
Ein Porträt des Barbaren als junger Mann
Eine Kindheit
Seine Mutter hatte es ihm selber erzählt. Sie hatte geglaubt, er sei schon eingeschlafen. Und sei ohnehin noch zu jung, um es zu verstehen oder im Gedächtnis zu behalten. Doch verwunderlicherweise war es eine von Aurics frühesten Erinnerungen geblieben, an die er sich später gegen jede Wahrscheinlichkeit noch klar erinnern konnte.
Wie in den anderen Schwangerschaften zuvor auch, hatte seine Mutter einen Sud aus Kräutern genommen. Das Rezept hatte sie sich selber zusammengereimt, zum Teil aus Kenntnissen, die den Erinnerungen an eine Zeit entstammten, als Valgarien für sie nur ein weit entferntes, Schaudern erregendes Gerücht war; auf andere Bestandteile schloss sie aus dem Gerede der Frauen über die diskreten Praktiken des Kräuterweibs. Als dieser Sud diesmal keinen Erfolg zeitigte und die Frucht nicht abtrieb, griff sie zu stärkeren Dosen. Als auch die, sowie andere Maßnahmen, eingeschlossen einen gezielten Sturz, am Faktum ihrer Schwangerschaft nichts ändern konnten, nahm sie mit dem heranwachsenden Leben in ihrem Leib Zwiesprache.
Wer mit solcher Hartnäckigkeit ins Leben dränge und daran festhielte, habe es sich
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