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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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Worte schwirrten mir damals wie wütende Bienen entgegen.
    »Vielleicht irrt sich das Buch des Lebens«, sage ich aufsässig.
    Granny Carne lacht kurz auf. »Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand traut, mir das ins Gesicht zu sagen.«
    »Aber es wäre möglich.«
    »Du siehst das falsch. Du denkst, es ist wie ein Kochrezept für die Zukunft, dessen Ergebnis schon feststeht. Nein. Mein Buch des Lebens zeigt dir nur die Zutaten, also das, was da ist, so wie Mehl, Salz, Fett und Honig. Was du daraus machst, ist eine andere Sache. Aber es zeigt dir auch, welche Zutaten nicht da sind. Ohne Honig kannst du keine Süße erzeugen und ohne Salz keinen salzigen Geschmack.
    Du hast keine Zugehörigkeit, mein Mädchen, weder zur einen noch zur anderen Seite. Aber die Zukunft braucht euresgleichen. Sie braucht Leute, die keine Zugehörigkeit haben. Hast du schon mal gesehen, wie ein riesiger Felsbrocken von einem Schwenkarm emporgehoben wird? So haben sie diese Hinkelsteine errichtet.«
    Und du hast wahrscheinlich zugesehen , denke ich. Ich kann mir gut vorstellen, wie Granny Carne auf der Hügelseite stand, in einen erdfarbenen Umhang gehüllt, und den Leuten aus der Bronzezeit zugesehen hat, wie sie im Schweiße ihres Angesichts die großen Steine aufstellten. Und ich wette, schon damals sind die Leute hierher gekommen, um Granny Carne von ihren Sorgen und Nöten zu erzählen.
    »Der Schwenkarm sieht nach nichts aus im Vergleich zum riesigen Granitstein, der schwer genug ist, um ein Dutzend Männer zu zerschmettern. Doch ist er in der Lage, ihn emporzuheben. Auch ihr seid unscheinbar, ihr wenigen, deren Blut aus Erde und Indigo gemischt ist. Doch ihr seid die einzige Chance, dass die Erde und Indigo eines Tages wieder versöhnt werden und die Zerstörung ein Ende nimmt. Deshalb gibt es keine einfachen Antworten. Ich weiß, dass du ohne Weiteres« – sie schnippt mit den Fingern – »in Indigo verschwinden könntest, so wie Mathew. Und eines Tages wirst du vielleicht an dir hinabschauen und feststellen, dass du ein Mer bist wie er. Doch weiß ich nicht, ob dich das glücklicher machen würde als deinen Vater.«
    Sie hört sich betrübt an. Dad und Granny Carne sind stets gute Freunde gewesen. Er sagte mir, ich solle nichts darauf geben, dass andere Kinder sie als Hexe bezeichneten, und sie immer mit Respekt behandeln, dann würde sie gut zu mir sein. Ich höre immer noch seine Stimme, die das sagt.
    Dad ist gefangen. Er ist nicht glücklich. Granny Carne weiß das und ich weiß es auch. Als er in jener Nacht den Lady Stream hinaufgeschwommen kam, um mich zu treffen, ist sein Gesicht voller Schmerz gewesen.
    Denk nicht daran. Dad wird seine Freiheit finden. Ich weiß, dass Saldowr sagt, man könne Leute zu nichts zwingen, aber ich kann mit Dad reden, von Angesicht zu Angesicht, und diesmal werde ich stark sein. Ich werde herausfinden, ob er im Herzen immer noch unser Dad ist oder ob Conor und ich nur noch vage Erinnerungen an ein früheres Leben sind, das er nun mit Mordowrgi und Mellina teilt. Ich muss den Mut aufbringen, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, statt ihn nur in Saldowrs Spiegel oder in einem entfernten Wasserbecken zu betrachten. Und das ist nur in Indigo möglich. Der einzige Ort, an dem sich das ganze Chaos von Sehnsucht und Zugehörigkeit entwirren lässt, ist Indigo.
    »Ich muss die große Reise machen«, sage ich.
    Granny Carne sieht mich durchdringend an. »Weißt du, was das bedeutet?«
    »Ich … ich glaube schon.«
    Granny Carne richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Ihre Augen funkeln wie die einer Eule, die weit unter sich eine Beute erblickt hat.
    »Du glaubst es?«, wiederholt sie.
    Ich habe Angst. Als hätte jemand einen Schleier fortgezogen, unter dem sich die ganze Macht Granny Carnes verborgen hielt. Nun lodert sie wie das Feuer im Herzen der Erde. Am liebsten würde ich aufspringen und den ganzen Hügel hinunterlaufen, bis ich wieder zu Hause in Sicherheit bin. Mein Herz rast, als wollte es ebenfalls davonlaufen. Sei tapfer, Sapphire. Du musst jetzt stark sein. Wenn du davonläufst, dann wirst du den Knoten, der dich fesselt, nie entwirren können, sondern ihn nur fester zuziehen.
    Ich blicke Granny Carne in die Augen, und für einen winzigen Moment glaube ich tatsächlich, in ihrer Tiefe ein Feuer lodern zu sehen. Meine Haut prickelt.
    »Sei ganz sicher, was du tust«, sagt sie eindringlich, »ehe du dein Schicksal so eng an die Mer bindest.«
    »Ich bin nicht sicher«, entgegne ich

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