Nixenfluch
Ebbe hat ihren niedrigsten Stand überschritten. Schon beginnt das Wasser wieder zu steigen. Wenn ich zu lange hier draußen bleibe, komme ich nicht mehr zurück. Ich sollte also gleich den vertrauten Weg über die Steine und anschließend den steilen Pfad nehmen, der den Hügel zu unserem Haus hinaufführt.
Conor ist in St. Pirans und hilft unseren Freunden Patrick und Rainbow ihr Haus instand zu setzen, das direkt am Strand liegt. Die Flutwelle hat sie mit voller Wucht getroffen und ihnen alles genommen. Selbst die Fenster und Türen sind verschwunden. Absolut alles in ihrem Haus ist zu Kleinholz worden.
Conor hat Sadie mitgenommen, weil Rainbow sich das inständig gewünscht hat. Sie liebt Sadie. Wenn ich an Rainbow denke, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich kaum bei ihr gemeldet habe, seit wir zurück nach Senara gezogen sind. Sie will, dass wir befreundet sind, und ich will es auch, aber so einfach ist das nicht. Außerdem frage ich mich, ob sie immer noch an unserer Freundschaft interessiert wäre, wenn sie die Wahrheit über mich kennen würde. Wenn sie wüsste, dass ich Mer-Blut in mir habe und halb nach Indigo gehöre. Wenn sie sehen könnte, wie ich neben Faro auf dem Felsen sitze. Ich habe Angst, Rainbow könnte mich dafür verantwortlich machen, was Indigo St. Pirans in jener Nacht angetan hat.
Das alles ist ziemlich kompliziert, und ich will jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Mum und Roger sind einkaufen in Porthnance. Früher durfte ich nicht allein zur Bucht gehen, doch inzwischen bin ich ja älter, und Mum hat, seit wir wieder hier sind, nichts mehr zu diesem Thema gesagt. Außerdem bin ich nicht allein, sondern mit Faro zusammen. Und niemand könnte im Meer besser auf mich aufpassen als er.
In diesem Moment schießt Faros Kopf an die Oberfläche. Er wirft seine glänzenden Haare zurück.
»Komm, Sapphire! Schnell!«
»Aber das Wasser ist eiskalt, Faro. Es ist doch erst April. Denk dran, dass ich auch Menschenblut in mir habe. Ich würde mir eine Unterkühlung holen.«
Faro schüttelt ungeduldig den Kopf. »Ich rede doch nicht vom Schwimmen, so wie Menschen das tun. Komm mit nach Indigo.«
Nach Indigo. Dort spüre ich die Kälte nicht. Das Wasser in Indigo umfängt mich so natürlich, als wäre ich zu Hause. Doch wenn ich die Haut des Meeres durchstoße, brennen meine Lungen genauso, wie Faros Lungen brennen, wenn er an die Luft kommt. Aber so schlimm ist das inzwischen nicht mehr. Wir haben uns beide an den Wechsel gewöhnt. Ich werde von einer kribbelnden Vorfreude ergriffen. Dennoch zögere ich. Die Zeit in Indigo ist nicht so wie unsere Zeit. Was mir in Indigo wie eine einzige Stunde vorkommt, könnte an Land ein ganzer Tag sein. Und Mum hat schon genug Kummer gehabt. Seit der Flutnacht sind Conor und ich nicht mehr in Indigo gewesen, sondern haben uns weitgehend in der Nähe unseres Hauses aufgehalten.
»Schnell, Sapphire! Mein Freund ist hier und wartet auf uns. Wir wollen zu einer Versammlung.«
»Eine Versammlung? Ist das so was wie euer Treffen letztes Mal?«
Mein Herzschlag beschleunigt sich erneut. Als ich letzten Herbst mit Faro in Indigo war, habe ich in der Ferne Scharen von Mer gesehen. Sie trugen wunderschöne, mit Muscheln besetzte Umhänge und schimmernde Netze, als sie auf dem Weg zu einem Treffen waren. Für mich klang es so, als wollten sie ein großes Fest feiern, aber Faro wollte mich nicht daran teilnehmen lassen. Ich bin nicht einmal dicht genug an die Mer herangekommen, um mit ihnen reden zu können. Aber vielleicht klappt es ja diesmal. Bestimmt werde ich Faros Leute kennenlernen. Vielleicht werde auch ich einen Umhang tragen …
»Nein«, sagt Faro. »Ein Treffen dient nur dem Vergnügen. Eine Versammlung ist … eine ernstere Angelegenheit. Mein Freund ist extra gekommen, weil man dich vorladen lässt.«
»Mich vorladen?«
Ich stehe auf dem Felsen, richte mich zu meiner vollen Größe auf. »Was soll das heißen, Faro? Mich vorladen?«
Faro blickt zu mir hinauf und ich blicke zu ihm hinab. Ich spüre seine Stärke. Die Stärke der Mer, die wie ein Magnet ist. Doch spüre ich auch meine eigene Kraft und bin bereit, mich mit ihm zu messen. Ich bin sein Gegenpart. Wir starren uns an. Keiner wendet den Blick ab.
Schließlich sagt Faro: »Sie möchten, dass du kommst, Sapphire. Sie brauchen dich dort unten.«
»Du hast ›vorladen‹ gesagt, Faro.«
»Da hab ich mich wohl etwas falsch ausgedrückt. Tut mir leid.« Ein zerknirschtes Lächeln
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