Nixenjagd
Akten steht«, antwortete Baumann knapp. »Aber ich werde noch einmal mit dem Kollegen reden, der sie damals befragt hat.« »Ich schlage vor, dass wir die ganze Sippschaft noch einmal vorladen«, meinte Petra voller Eifer. »Du und dein Kollege, ihr solltet dabei sein. Und die Staatsanwältin auch. Wir müssen denen so lange einheizen, bis einer einknickt. Und wenn sie mit zehn Anwälten anrücken!« Petra hatte sich in Rage geredet. »Immer mit der Ruhe«, mahnte Volker Baumann. »Ruhe? Soll ich warten, bis noch ein Mädchen dran glauben muss?« Ungewollt war Petra etwas laut und schrill geworden. Die Ermittlungen, die sich hinzogen wie Kaugummi, zerrten an ihren Nerven. »Noch haben wir einfach zu wenig in der Hand«, gab Baumann zu bedenken. »Habt ihr überprüft, wo Alexandra Römer in der Nacht war, als Katrin ertrank?« »Nein«, gestand Petra. »Aber beim Zelten war Alexandra Römer nicht dabei. Das ist nur was für die Oberstufenklassen.« »Fahren öffentliche Verkehrsmittel zu diesem See?«, fragte Baumann. »Die Straßenbahn fährt bis Garbsen. Und ich denke, es fährt ein Bus bis in die Nähe... Verdammt, ich hätte das längst checken sollen«, bekannte Petra, ärgerlich auf sich selbst. Baumann hatte recht. Sie sollte zuerst ihre Hausaufgaben machen, sonst war die nächste Blamage vorprogrammiert. »Wie sieht es mit einer Hausdurchsuchung aus?«, fragte er. »Bis jetzt hat die Winterkorn beim Richter nichts erreicht. Und das will was heißen, denn sie ist persönlich hinter der Sache her.«
»Inwiefern?«
»Ihre Nichte ist in Pauls Jahrgang und scheint in ihn verknall t zu sein. « »Oje. « »Du sagst es. «
5 3
»Atmet Sie? « »Ich glaube schon. « »Seitenlage, sie muss in die stabile Seitenlage gebracht werden. « »Ich dreh sie nicht um! Wenn nachher was ist... « »Ich hab’s gesehen. Sie ist regelrecht über das Auto weggeflogen. « »Ist denn kein Arzt hier? « »Der Rettungsdienst ist schon verständigt. « »Wieso kommt der dann nicht? « »Mein Gott, ich war hinter ihr und habe mir noch gedacht, wieso bremst die denn nicht, so kurz vor der Straße! « »Sie war plötzlich vor dem Auto, ich bin doch gar nicht schnel l gefahren, ich habe doch noch gebremst, aber dann... « Eine Traube von ratlosen und neugierigen Menschen hatte sic h um die Unglücksstelle gebildet: Der Autofahrer, ein Nervenbündel, tigerte verzweifelt auf und ab, etliche Schüler stande n da, die Hände um die Fahrradlenker gekrampft . »Na, endlich! « Man hörte die Sirene nahen. Jemand hatte Franziska eine Jack e unter den Kopf gelegt. Ihr Haar war blutig. Eine Frau kniete neben ihr und tupfte hilflos an ihrer Stirn herum .
»Da kommt der Notarzt.«
»Und die Polizei.« »Wird auch Zeit.« Man atmete auf. »Bitte, meine Herrschaften, machen Sie Platz!« Murmelnd wich die Menge zurück und sah den Profis bei der Arbeit zu. Als sich die Türen des Rettungswagens hinter dem Unfallopfer schlossen, gingen die meisten Schaulustigen wieder ihrer Wege. Ein hartnäckiger Rest blieb da und beobachtete, wie Polizisten maßen, fotografierten, Personalien von Zeugen aufnahmen und sich Notizen machten. Das Fahrrad verschwand im Kofferraum des blau-weißen Fahrzeugs. Dann war auch das vorbei und die Menschen gingen nach Hause oder zurück zur Arbeit. Den meisten stand der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Nur ein Gesicht lächelte.
5 4
Lydia Winterkorn machte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vom Notschlüssel ihrer Schwester Frauke Gebrauch. »Der Schlüssel steckt jetzt im Vogelhäuschen, das im Apfelbaum hängt«, hatte ihr Frauke mitgeteilt. Tatsächlich fand sie ihn dort und betrat das Haus. Die Spätnachmittagssonne fiel schräg durch das Küchenfenster, das, wie so manches im Haus, mal wieder einen Lappen vertragen hätte. Aber Frauke war noch nie ein Putzteufel gewesen, dachte Lydia mit einem Lächeln. Das kleine Haus strahlte eine lebendige Gemütlichkeit aus. Vielleicht gerade deswegen, dachte Lydia. Zorn wallte plötzlich in ihr auf. Sie würde nicht dulden, dass jemand das Leben ihrer Nichte zerstörte. Wer immer für das, was bereits ge schehen war, verantwortlich war – jetzt bekam es derjenige mit ihr zu tun! Kampflustig stieg sie die Treppe hinauf. Für ein Mädchenzimmer sah Franziskas Zimmer unter dem Dach recht nüchtern aus. Keine Star-Poster, keine Diddl-Mäuse, wenig Stofftiere. Ein Hundekalender hing an der Wand und zwei Bilder von Landschaften am Meer. Aber es war ja auch wenig Platz an den
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