Nixenmagier
mir Sadies goldenes Fell unter Wasser vorzustellen, tief in Indigo, und ihre geschlossenen Nasenlöcher, damit das Wasser nicht eindringen kann. Aber es gelingt mir nicht. Das Bild, das ich mir ausmale, gleicht eher einem schwimmenden Seehund als Sadie.
Sadie winselt. Flehende, klagende Laute dringen aus der Tiefe ihrer Kehle. Sie legt ihre Vorderpfoten auf meinen Schoß, sodass ihre Barthaare mein Gesicht kitzeln.
»Ohne Roger hättest du Sadie nie bekommen«, fährt Conor fort. »Er hat Mum ganz schön unter Druck gesetzt.«
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich habe jetzt keine Lust, ihm zuzustimmen. Und warum bringt er überhaupt Roger ins Spiel? Roger hat vielleicht dafür gesorgt, dass ich Sadie bekomme, aber er hat uns auch Mum weggenommen und unsere Familie geteilt.
Sadie blickt mich vorwurfsvoll an, als solle ich zugeben, dass ich mir da eine Version zusammenreime, die nicht ganz der Wahrheit entspricht. Wer hat denn deine Familie geteilt, Sapphire? War es Roger, oder war es dein eigener Vater, der dich und Conor so sehr geliebt hat, dass er euch verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen oder zumindest eine Nachricht zu hinterlassen?
Ich werde von zornigen, bitteren Gedanken erfüllt. Ich habe Dad immer geliebt, doch so langsam begreife ich, dass es auch möglich wäre, ihn zu hassen. Warum ist er fortgegangen? Welcher Vater, dem seine Kinder etwas bedeuten, würde mitten in der Nacht mit dem Boot hinausfahren und nie mehr wiederkommen? Ich schmecke die Bitterkeit in meinem Mund.
Nein, ich werde nicht zulassen, dass mich die Wut überwältigt. Ich werde sie bändigen. Dad ist aus gutem Grund verschwunden. Er hatte nur noch keine Gelegenheit, uns den Grund zu erklären.
Plötzlich schlägt im Obergeschoss ein Fenster. Unser Haus in St. Pirans ist sehr klein, noch kleiner als unser altes. Unten gibt es nur einen großen Wohnraum, an dessen Ende sich die Küche befindet. Im Obergeschoss ist mehr Platz, weil ein Teil davon über das Nachbarhaus hinübergebaut wurde. Dort gibt es drei Schlafzimmer und ein Badezimmer. Meines ist so winzig, dass gerade mal ein Bett hineinpasst, aber das macht mir nichts aus, denn es hat auch ein kreisrundes Fenster, das an zwei Scharnieren hängt und aufschwingt wie ein richtiges Bullauge auf einem Schiff.
Außerdem ist es das einzige Fenster, von dem aus man das Meer sehen kann. Mein Schlafzimmer ist Teil des Überbaus. Ich mag es, weil es gar nicht wie ein Bestandteil des Hauses wirkt. Ich höre Mum und Roger nicht reden. Ich bin völlig unabhängig. Wenn ich auf meinem Bett knie und aufs Meer hinausblicke, komme ich mir vor wie auf einem Schiff, das die Bucht in nordöstliche Richtung verlässt, tieferen Gewässern entgegen …
Das Fenster schlägt erneut, diesmal noch lauter. Der Wind frischt auf. Das ist die Jahreszeit der Stürme. Wenn es stürmt,
wird salzige Gischt über die Dächer der Häuser geweht. Ich kann es kaum erwarten, das Meer in der Bucht brüllen zu hören wie ein Löwe.
»Mach lieber das Fenster zu, Saph.«
»Bist du sicher, dass das mein Fenster ist?«
»Klar. Keines macht so einen Krach wie deins. Dein Bullauge ist ja auch viel schwerer als die anderen Fenster.«
Conor hat recht. Der Wind hat das Bullauge weit aufgestoßen. Ich knie mich auf mein Bett und schaue hinaus. Hinter dem Wirrwarr der Schieferdächer befindet sich eine Lücke in der Reihe der Häuser und Apartments, die mir einen Blick aufs Meer gestattet. Der Wind bläst den weißen Schaum von den Wellen. Schreiende Möwen lassen sich von der Thermik nach oben tragen. Wir sind hier sehr nahe am Wasser. In Senara haben wir oben auf den Hügeln gewohnt, und ich finde es immer noch merkwürdig, dass wir uns jetzt auf der Höhe des Meeresspiegels befinden.
»Ich geh an den Strand!«, ruft Conor die Treppe hinauf.
»Ich komm mit!«
Der Wind hat mächtig aufgefrischt. Er schlägt uns entgegen, als wir um die Ecke des Hauses biegen.
»Meinst du, es wird einen Sturm geben?«
Conor schüttelt den Kopf. »Nein, das Barometer ist zwar seit heute Morgen gefallen, aber jetzt ist der Luftdruck beständig. «
Von der letzten Stufe aus springen wir in den Sand. Unmittelbar hinter dem Strand bilden die Häuser und Apartments eine lange Reihe. Im Erdgeschoss verfügen alle über solide Fensterläden, die weit offen standen, als wir hierherzogen, doch nun sind sie geschlossen und verriegelt. Einige
sind bereits halb mit Sand bedeckt, der sich vor ihnen auftürmte, als Ende September, zur
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