Nixenmagier
ebenfalls überrascht, ist, wie schnell sich die See wieder beruhigt hat. Nach der kräftigen Brise der letzten beiden Tage sollte sie eigentlich sehr viel rauer sein. Jetzt herrscht eine fast unheimliche Stille.
Sadie will die Stufen nicht hinuntergehen. Sie senkt ihren Kopf zwischen die Vorderpfoten.
»Alles in Ordnung, Sadie, du darfst ruhig an den Strand gehen.« Ich ziehe sie sanft am Halsband, doch Sadie bewegt sich nicht vom Fleck.
»Sadie, du regst mich langsam auf.«
Ich sehne mich danach, im Sand zu stehen. Ich ziehe ein wenig stärker, doch sie bohrt ihre Pfoten in die Erde. Ich will sie nicht mit Gewalt wegzerren.
»Na gut, Sadie. Warte einen Moment.«
Ich mache eine Schlinge und lege sie um einen Metallpfosten. Sadie winselt. Der Mond scheint so hell, dass ich ihr Gesicht erkennen kann. Sie fleht mich an, sie nicht allein zu lassen, doch diesmal bleibe ich hart. Ich muss einfach an den Strand gehen. Der Sog ist so stark, dass ich ihre Stimme überhöre, sie rasch umarme und »Bleib hier, Sadie« sage, bevor ich die Stufen hinuntereile.
Neben mir, zur Rechten, höre ich Wasser rauschen. Es ist der Bach, der die Felsen hinunterstürzt. Im Sommer spielen die Kinder in ihm und bauen Dämme. Das Wasser glitzert im Mondlicht, während es die pechschwarzen Steine hinunterschießt. Das Meer steigt immer noch. Warum wirkt es heute so mächtig, obwohl es keine wilden Wellen, keine Gischt und keine hämmernde Brandung gibt?
Viel Strand ist nicht mehr übrig geblieben. Ich gehe auf einen kleinen Felsen zu, der aus dem leuchtenden Sand
ragt. Als mir eine Welle entgegenschwappt, springe ich hinauf, damit meine Turnschuhe nicht nass werden. Doch schon im nächsten Moment gurgelt das Wasser um meine Fersen. Ich klettere ein Stück weiter nach oben und schaue mich um. Die Bucht ist nun vollkommen mit Wasser gefüllt, das im Mondlicht glänzt. Es hat den gesamten Felsen, auf dem ich sitze, umschlossen.
Sapphire, du blöde Kuh, jetzt hast du dir den Weg abgeschnitten! Aber das Wasser ist noch seicht. Auch im Dunkeln kann ich ins Trockene zurückwaten. Ich muss mir nur noch die Turnschuhe ausziehen, und zwar rasch, denn das Wasser steigt immer weiter.
»Du musst schwimmen«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich zucke so heftig zusammen, dass ich fast vom Felsen gefallen wäre. Eine starke Hand schließt sich um mein Handgelenk.
»Ich bin’s, Sapphire.«
»Faro.«
»Ja.«
Plötzlich bin ich böse auf ihn. »Warum kommt ihr nicht bei Tageslicht zu uns, so wie früher?«, frage ich gereizt. »Conor sucht die ganze Zeit nach Elvira. Wo ist sie?«
»Mal hier, mal dort«, antwortet er amüsiert. »Überall und nirgends. So wie ich.«
»Halt mich nicht zum Narren!«, entgegne ich verärgert. »Ich hasse es, wenn Leute, die eben noch da waren, im nächsten Moment …«
Ich halte inne und schlucke den Rest des Satzes hinunter.
»Ich bin nicht verschwunden«, erwidert Faro ernst. »Ich werde niemals verschwinden. Das verspreche ich dir. Aber in St. Pirans ist es schwieriger für dich, uns zu sehen. Selbst
in der Nacht ist es nicht leicht. Es gibt hier so viele Leute. Davon abgesehen halten wir uns hier normalerweise gar nicht auf.«
»Das weiß ich«, sage ich düster. »Ich eigentlich auch nicht.«
»Aber du bist ein Mensch. Und das ist es doch, was Menschen machen: Sie drängen sich in Städten zusammen. Sie lieben es, wenn alles mit Beton und Asphalt bedeckt ist.«
Faro spricht das Wort Asphalt mit Stolz aus. Er liebt es, mich mit seinen Kenntnissen über unsere Welt zu beeindrucken.
»Hast du mal wieder mit den Möwen geredet, Faro? Und weißt du wirklich, was Asphalt ist? Und Beton?«
»Aber natürlich. Das ist das Zeug, das ihr Menschen auf die Straße kippt, damit die Erde nicht mehr atmen kann.«
Der Mond scheint so hell, dass ich seine Gesichtszüge erkennen kann. »Sag mal, Faro, bist du älter geworden?«
Ich weiß, dass die Zeit bei den Mer anders vergeht als bei uns. Ist es möglich, dass Faro ein Jahr älter wurde, während bei uns nur wenige Monate vergangen sind? Vielleicht ist es aber auch nur sein Gesichtsausdruck, der ihn älter erscheinen lässt.
»Du kannst Indigo auch bei Dunkelheit erreichen, sogar von hier aus, Sapphire. Das weißt du.«
Eine Welle aus Furcht und Vorfreude flutet durch meinen Körper.
»Aber ich kann jetzt nicht nach Indigo kommen, Faro. Mum wartet auf mich, und Sadie. Wenn ich länger als eine halbe Stunde lang wegbleibe, macht sie sich schon verrückt. «
»Mach dir
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