Nixenmagier
hindurch. Ich stütze meine Ellbogen auf die Kante und schaue hinaus.
Wasser. Schwarzes, öliges Wasser schwappt an den Wänden hoch. Das Haus auf der gegenüberliegenden Seite ist kaum noch zu sehen. Die gesamte Straßenseite liegt niedriger als unsere. Das Meer befindet sich auf der Höhe der Schlafzimmerfenster. Die Dächer und Schornsteine zeichnen sich scharf in der Dunkelheit ab.
Dann erkenne ich mit einem Mal, wie das Mondlicht zwei Gesichter aufleuchten lässt, die zu mir nach oben schauen. Sie sind’s. Nicht Roger mit seinem Boot, sondern Conor und Faro im Wasser.
Im ersten Moment kann ich es nicht glauben. Vermutlich sehne ich mich so sehr nach ihnen, dass mir meine Fantasie einen Streich spielt. Ich zwinkere, um zu sehen, ob die Gesichter dann wieder verschwinden. Doch als ich erneut hinschaue, sehe ich sie deutlicher als zuvor. Ich winke, und Faro winkt zurück, bevor er abtaucht, um Luft zu holen. Ich fummele am rostigen Fensterhaken. Meine Finger zittern so stark, dass ich ihn anfangs nicht lösen kann. Als es mir schließlich gelingt, klemmt das Fenster. Vermutlich ist es seit hundert Jahren nicht geöffnet worden. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Mum, Rainbow und Sadie schlafen immer noch tief und fest. Ich beschließe, es darauf ankommen zu lassen, und schlage hart gegen das Fenster. Es fliegt auf. Ein weiterer Blick nach hinten. Niemand hat sich bewegt.
»Ist Mum da oben?«, ruft Conor hinauf. »Ist sie okay?«
Ich drehe mich um, doch nach wie vor sehe ich keine Regung, als hätte ein Zauber sie in tiefen Schlaf versetzt. Indigo ist stark heute Nacht und die Erde schwach. Sadie winselt zitternd vor sich hin und kommt dann wieder zur Ruhe.
»Ja, Mum ist hier!«, rufe ich so leise wie möglich zurück. »Sie ist okay. Rainbow ist auch da. Sie schlafen alle.«
»Weck sie nicht auf. Roger ist mit einem Schlauchboot unterwegs. Er wird bald da sein. Sein eigenes Boot ist total kaputt. Aber wir sind auch wegen dir da, Saph. Wir brauchen dich.«
»Wozu?«
»Ist das Fenster groß genug für dich, um rauszuklettern?«
»Ja, aber …«
»Dann komm, schnell! Wir fangen dich auf.«
»Ich weiß nicht …«
»Nur keine Angst, kleine Schwester«, kommt Faros spöttische Stimme.
»Ich hab keine Angst!«, zische ich ärgerlich. »Ich will nur wissen, was ihr vorhabt.« Erneut werfe ich einen Blick über die Schulter. Ich glaube, Mum, Rainbow und Sadie schlafen so tief, dass sie nicht mal aufwachen würden, wenn ich zu ihnen ginge und sie schüttelte.
»Jetzt komm schon!«, drängt Conor. »Saldowr hat uns gerufen. Er braucht unsere Hilfe.«
»Saldowr!«
»Das stimmt«, bestätigt Faro, und diesmal ist seine Stimme frei von Ironie. Ich blicke zu ihnen hinunter. Durch ihre nassen, zurückgestrichenen Haare haben beide eine merkwürdige Ähnlichkeit bekommen. »Es ist das erste Mal, dass Saldowr jemand um Hilfe bittet«, fährt Faro fort. »Er ruft euch zum Gezeitenknoten und hat mich gebeten, euch dorthin zu begleiten. Ihr müsst euch beeilen.«
Wenn ich mit den Füßen zuerst aus dem Fenster klettere und mich dann auf dem Fensterbrett umdrehe, kann ich mich von der Kante aus ins Wasser fallen lassen. Das
wird kein allzu lautes Geräusch machen. Außerdem werden Conor und Faro darauf achten, dass ich nicht sofort abtreibe.
Aber ist dort unten wirklich Indigo? Das Wasser sieht dunkel und abweisend aus. Nicht wie das Meer, das ich so gut kenne. Als hätte Indigo seine Natur verändert, als es seine Grenzen sprengte. Doch ich habe keine Wahl. Ich kann nicht darauf warten, dass Roger mich mit seinem Schlauchboot rettet, wenn Saldowr uns ruft.
Doch was wird aus Mum werden? Sie wird sich solche Sorgen machen, wenn sie aufwacht, und ich bin nicht da. Und die arme Sadie wird auf dem Dachboden hin und her laufen und sich die Seele aus dem Leib bellen. Sie wird wissen, wo ich geblieben bin. Aber daran kann ich nichts ändern. Ich lasse dich nicht im Stich, liebe Sadie. Ich versuche, uns allen zu helfen. Bitte schlaf weiter, damit du keine Angst bekommst. Mach dir keine Sorgen, Mum. Conor und mir wird nichts geschehen. Wir müssen gehen. Wir haben keine andere Wahl. Sadie und Rainbow werden auf dich aufpassen.
Sobald ich mit Conor und Faro unter Wasser bin, ist keine Zeit mehr für Gespräche. Das wäre zu gefährlich. Unmittelbar an unserem Haus ist das Wasser relativ ruhig, doch als wir uns von ihm entfernen, werden wir von Strudeln und Strömungen erfasst, die uns anderen Gebäuden
Weitere Kostenlose Bücher