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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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fordert mich auf, mit ihr zu reden.
    Sie sagt weder »Und du?« noch »Was treibst du so im Leben?«, sie sagt genau das:
    »Kannst du mit mir reden?«
    Reden ist nicht so mein Ding, ich habe immer den Eindruck, die Wörter entwischen mir, sie entziehen sich, zerstreuen sich, es ist keine Frage des Vokabulars oder der Begriffe, denn Wörter kenne ich zuhauf, doch sobald ich sie ausspreche, verschwimmen und zersplittern sie, deshalb vermeide ich Berichte und Vorträge, ich beschränke mich auf die Beantwortung der Fragen, die man mir stellt, den Überschuss, die Fülle der Wörter, die ich im Stillen sammle, um der Wahrheit näherzukommen, behalte ich für mich.
    Doch No sitzt vor mir, und ihr Blick ist wie eine Bitte.
    Also lege ich los, wild durcheinander, auch wenn ich mich völlig nackt fühle, auch wenn es Blödsinn ist. Als ich klein war, hielt ich unter meinem Bett eine Schatzkiste mit allen möglichen Erinnerungsstücken versteckt, einer Pfauenfeder aus dem Botanischen Garten, Tannenzapfen, bunten Wattekugeln zum Abschminken, einem blinkenden Schlüsselanhänger und so; eines Tages habe ich ein letztes Souvenir hineingelegt, was für eins, kann ich dir nicht sagen, ein sehr trauriges, es markierte das Ende meiner Kindheit, ich habe die Kiste verschlossen, unter mein Bett geschoben und sie nie wieder in die Hand genommen; übrigens habe ich noch mehr Kisten, eine für jeden Traum; die anderen in meiner neuen Klasse nennen mich das Hirn, sie ignorieren mich oder gehen mir aus dem Weg, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, aber im Grunde weiß ich, es liegt an mir, ich bin nicht imstande, mit ihnen zu reden und zu lachen, ich halte mich abseits, es gibt auch einen Jungen, Lucas, manchmal kommt er nach dem Unterricht zu mir, er lächelt mir zu, er ist eine Art Klassenboss, der von allen respektiert wird, er ist sehr groß und sehr schön und so, aber ich trau mich nicht, mit ihm zu reden, abends mache ich ratzfatz meine Hausaufgaben, und danach gehe ich meinen eigenen Beschäftigungen nach, ich suche neue Wörter, es ist wie ein Taumel, denn es gibt Tausende von Wörtern, ich schneide sie aus der Zeitung aus, um sie zu domestizieren, ich klebe sie in die großen Blanko-Hefte, die meine Mutter mir geschenkt hat, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und ich habe auch viele Lexika, aber ich benutze sie nicht mehr so oft, ich weiß sie schon auswendig, ganz hinten im Schrank habe ich ein Geheimversteck, mit allen möglichen Sachen, die ich auf der Straße aufgelesen habe, Verlorenes, Zerbrochenes, Weggeworfenes und so …
    Sie schaut mich an, sie wirkt amüsiert, sie scheint mich nicht seltsam zu finden, nichts scheint sie zu erstaunen, ihr gegenüber kann ich meine Gedanken aussprechen, auch wenn sie durcheinandergeraten und sich überschlagen, ich kann die Unordnung aussprechen, die in meinem Kopf herrscht, ich kann und so sagen, ohne dass sie mich zur Ordnung ruft, denn sie versteht, was ich damit meine, da bin sicher, sie weiß, dass und so für all das steht, was man hinzufügen könnte, aber für sich behält, aus Faulheit, Zeitmangel oder auch, weil man so etwas nicht sagen darf.
    Sie legt ihre Stirn zwischen ihre Arme auf die Tischplatte, und ich rede weiter, ich weiß nicht, ob mir das schon einmal passiert ist, ich meine, ob ich schon jemals so lange geredet habe, wie in einem Monolog auf der Bühne, ohne jede Antwort, und dann schläft sie einfach ein, ich habe meine Cola ausgetrunken und bleibe sitzen, ich schaue sie an, wie sie schläft, das wenigstens hat sie schon mal davon gehabt, die Wärme des Lokals und die gut gepolsterte Bank, die ich ihr absichtlich überlassen habe, ich kann es ihr nicht verübeln, ich bin auch eingeschlafen, als wir mit der Klasse im Theater L’École des femmes gesehen haben, dabei war es wirklich gut, aber ich hatte zu viel im Kopf – das ist dann wie bei einem Computer, das System versetzt sich in den Ruhezustand, um den Speicher zu schützen.
    Gegen sieben kriege ich allmählich doch Schiss, dass ich ausgeschimpft werde, ich schüttele sie sanft.
    Sie öffnet ein Auge, und ich flüstere:
    »Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.«
    Die Maschen ihres Pullovers haben auf ihrer Wange ein Muster hinterlassen.
    »Hast du bezahlt?«
    »Ja.«
    »Ich bleib noch ein bisschen hier.«
    »Können wir uns wiedersehen?«
    »Von mir aus.«

    Ich ziehe meinen Mantel über und gehe. Auf der Straße drehe ich mich noch einmal um, um ihr durch die Scheibe zuzuwinken, doch

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