No & ich: Roman (German Edition)
No sieht mich nicht an.
M ademoiselle Bertignac, bitte kommen Sie nach der Stunde zu mir, ich habe zu Ihrem Thema ein wenig recherchiert und Material für Sie mitgebracht.«
»Ja, Monsieur.«
Man soll »Ja, Monsieur« sagen. Man soll die Klasse schweigend betreten, seine Sachen aus der Tasche holen, beim Verlesen der Namensliste »anwesend« sagen, und zwar laut und deutlich, nach dem Klingeln warten, bis Monsieur Marin das Zeichen zum Aufstehen gibt, man soll nicht mit den Füßen unter dem Stuhl wippen, während des Unterrichts nicht auf sein Handy schauen und auch nicht auf die große Uhr im Klassenzimmer, man soll nicht mit seinem Haar spielen, nicht mit seinem Nachbarn oder seiner Nachbarin tuscheln, man soll weder den Hintern noch den Bauchnabel sehen lassen, man soll aufzeigen, bevor man etwas sagt, auch bei vierzig Grad im Schatten die Schultern bedecken, man soll keine Bleistiftenden und schon gar keinen Kaugummi kauen. Und so weiter. Monsieur Marin ist der Schrecken des Gymnasiums. Er ist gegen Strings, Hüfthosen, über den Boden schleifende Hosen, gegen gegeltes und gebleichtes Haar. Mademoiselle Dubosc, Sie dürfen gern wieder zum Unterricht kommen, wenn Sie Kleidungsstücke tragen, die diesen Namen verdienen, Monsieur Muller, hier bitte, ein Kamm, ich gebe Ihnen zwei Minuten, dann sind Sie gekämmt wieder hier.
Mein sehr guter Notendurchschnitt schützt mich keineswegs, vom ersten Tag an rügt er mich, sobald ich aus dem Fenster sehe, sobald ich abwesend bin, und sei es nur für zwei Sekunden, Mademoiselle Bertignac, würden Sie so liebenswürdig sein und in unsere Mitte zurückkehren, Sie haben immer noch genug Zeit, sich in Ihre Innenwelt zurückzuziehen, sagen Sie mir doch, wie ist das Wetter in Ihren Sphären? Monsieur Marin muss über den Körper verteilt ein Dutzend unsichtbarer Augenpaare haben, in den Nasenlöchern einen Unaufmerksamkeits-Detektor und außerdem Fühler wie eine Schnecke. Er sieht und hört alles, nichts entgeht ihm. Dabei laufe ich nicht bauchfrei herum, mein Haar ist glatt und mit Spangen gebändigt, ich trage normale Jeans und langärmlige Pullis, ich tue alles, um nicht aufzufallen, ich gebe keinen Laut von mir, ich spreche nur, wenn er mich fragt, und ich bin dreißig Zentimeter kleiner als die meisten meiner Mitschüler. Alle haben Respekt vor Monsieur Marin. Nur Lucas bringt es fertig, den Klassenraum zu verlassen, nachdem er ihm mit hoch erhobenem Kopf geantwortet hat: Kämme sind wie Zahnbürsten, Monsieur Marin, so was verleiht man nicht.
»Schätzungen zufolge gibt es in Frankreich zwischen 200000 und 300000 Personen ohne festen Wohnsitz, 40 Prozent von ihnen sind Frauen, die Zahl nimmt stetig zu. Und bei den Obdachlosen zwischen 16 und 18 Jahren beträgt der Frauenanteil sogar 70 Prozent. Sie haben sich ein gutes Thema ausgesucht, Mademoiselle Bertignac, auch wenn es schwer zu behandeln sein wird, ich habe Ihnen in der Bibliothek ein sehr interessantes Buch über die Ausgrenzung in Frankreich ausgeliehen, das übergebe ich Ihnen zu treuen Händen, und dazu noch diese Kopie eines Artikels, der kürzlich in Libération erschienen ist. Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn Sie Hilfe brauchen. Ich traue Ihnen zu, dass Ihr Referat weniger dröge ausfällt als das Ihrer Schulkollegen, Sie haben das Zeug dazu, aber jetzt halte ich Sie nicht länger auf, gehen Sie und genießen Sie Ihre Pause.«
Ich habe einen Kloß im Hals, und in meinen Augen brennt es. Auf dem Schulhof gehe ich zu meiner Ecke in der Nähe der Bank, ich lehne mich an den einzigen Baum weit und breit, es ist, als wäre er mein Baum, nach zwei Monaten versucht niemand mehr hierherzukommen, hier ist mein Platz, von ferne beobachte ich die anderen, die Mädchen kichern und stoßen sich mit dem Ellbogen an, Léa trägt einen langen Rock und Schnürstiefelchen, sie schminkt sich, sie hat blaue Mandelaugen und ist unerhört schlagfertig, sie hat immer etwas Lustiges oder Interessantes zu sagen, alle Jungs sehen ihr nach, auch Axelle, obwohl sie nicht so hübsch ist, sie hat keine Angst, das sieht man, sie hat vor gar nichts Angst, nach der Schule trinken sie zusammen einen Kaffee, sie telefonieren miteinander, schicken sich gegenseitig SMS, chatten abends auf MSN und gehen mittwochs nachmittags zu H&M.
Einmal, kurz nach Schuljahrsbeginn, haben sie mich zu ihrem Geburtstag eingeladen, ich habe mich bedankt und auf meine Füße geschaut und gesagt, ich käme. Eine Woche lang habe ich überlegt, was
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