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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Interview auf sich auf. Dass Sie nicht an die Falschen geraten. Vielleicht sollte Ihre Mutter oder Ihr Vater mitgehen.«
    »Keine Sorge. Das ist alles geregelt.«

    Meine Mutter verlässt die Wohnung schon seit Jahren nicht mehr, und mein Vater weint heimlich im Badezimmer. Das hätte ich ihm sagen sollen.
    Dann hätte mich Monsieur Marin endgültig von der Liste gestrichen.

D ienstags und freitags, wenn ich früher aus der Schule komme, gehe ich oft zur Gare d’Austerlitz. Ich gehe hin und sehe mir die abfahrenden Züge an, wegen der Gefühlsbewegungen, die beobachte ich nämlich gern, die Gefühle anderer Leute, deshalb verpasse ich im Fernsehen auch kein Fußballspiel, ich liebe es, wenn sich die Leute nach einem Tor umarmen, sie rennen mit hochgestreckten Armen herum und umhalsen sich, und auch in Wer wird Millionär?: Man muss die Mädchen nur sehen, wenn sie die richtige Antwort gegeben haben, sie halten sich die Hände vor den Mund, werfen den Kopf in den Nacken, stoßen Schreie aus und so, und dabei stehen ihnen dicke Tränen in den Augen. Auf den Bahnhöfen ist es anders, die Gefühle lassen sich aus den Blicken erraten, aus den Gesten und Bewegungen, da trennen sich Liebespaare, Großmütter reisen wieder ab, Damen in weiten Mänteln lassen Herren mit hochgeschlagenen Kragen zurück oder umgekehrt, und ich beobachte diese Leute, die fortgehen, man weiß weder wohin noch warum, noch für wie lange, durch die Scheibe hindurch verabschieden sie sich, sie winken diskret oder rufen laut, obwohl man sie sowieso nicht hören kann. Mit ein wenig Glück erlebt man echte Trennungen, ich meine, dann spürt man deutlich, es wird lange dauern, oder es wird den Betreffenden lange vorkommen (was auf dasselbe hinausläuft), dann sind die Gefühle sehr dicht, es ist, als würde die Luft dicker, als wären sie allein und ringsum wäre niemand. Bei den ankommenden Zügen ist es genauso, ich stelle mich ans Ende des Bahnsteigs und beobachte die Wartenden, ihr angespanntes, ungeduldiges Gesicht, die suchenden Augen und dann plötzlich dieses Lächeln auf ihren Lippen, den erhobenen Arm, ihr Winken, während sie loslaufen, um sich in die Arme zu fallen – dieser Überschwang, das ist es, was ich am allerliebsten mag.
    Kurzum, deshalb war ich auf der Gare d’Austerlitz. Ich wartete auf die Ankunft des TER um 16 Uhr 44 aus Clermont-Ferrand, der ist mein Lieblingszug, aus dem kommen alle möglichen Leute, Junge, Alte, gut Gekleidete, Dicke, Magere, schäbig Gekleidete, einfach alles. Irgendwann merkte ich, dass mir jemand auf die Schulter klopfte, ich brauchte eine Weile, denn ich war sehr konzentriert, und in einem solchen Fall könnte sich ein Mammut auf meinen Turnschuhen wälzen, ich würde nichts merken. Ich drehte mich um.
    »Hast du mal ’ne Fluppe?«
    Sie trug eine schmutzige Khaki-Hose, einen alten Blouson mit durchgescheuerten Ellbogen und einen Benetton-Schal, genauso einen wie den, den meine Mutter zur Erinnerung an ihre Jugend ganz hinten im Kleiderschrank aufbewahrt.
    »Nein, tut mir leid, ich rauche nicht. Aber ich habe Pfefferminz-Kaugummis, wenn Sie möchten.«
    Sie verzog den Mund, dann streckte sie die Hand aus, ich gab ihr das Päckchen, und sie stopfte es in ihre Tasche.
    »Salut, ich heiße No. Und du?«
    »No?«
    »Ja.«
    »Und ich Lou … Lou Bertignac.« (Normalerweise hat das eine gewisse Wirkung, weil die Leute glauben, ich sei mit dem Sänger verwandt, vielleicht sogar seine Tochter. Einmal, auf dem Collège, habe ich auch so getan als ob, aber dann wurde es schwierig, ich sollte Einzelheiten erzählen, Autogramme besorgen und so, schließlich musste ich doch mit der Wahrheit rausrücken.)
    Es schien sie nicht zu beeindrucken. Ich dachte, es sei vielleicht nicht die Sorte Musik, die sie mochte. Sie ging zu einem Mann, der einige Meter entfernt stand und Zeitung las. Er verdrehte seufzend die Augen und zog eine Zigarette aus seiner Schachtel, sie griff danach, ohne ihn anzusehen, und kam dann zu mir zurück.
    »Ich hab dich hier schon öfter gesehen. Was machst du hier?«
    »Ich komme, um mir die Leute anzusehen.«
    »Ach. Und bei dir zu Hause gibt’s keine Leute?«
    »Doch, aber das ist nicht dasselbe.«
    »Wie alt bist du?«
    »Dreizehn.«
    »Du hast nicht zufällig zwei, drei Euro? Ich hab seit gestern Abend nichts gegessen.«
    Ich suchte in meinen Hosentaschen, es waren noch ein paar Münzen da, ich sah sie gar nicht an, sondern gab sie ihr alle. Sie zählte sie, bevor sie die Hand

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