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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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uns an der Fleischtheke an, Geneviève erkannte mich, sie habe in einer Viertelstunde Pause, sagte sie, sie komme dann zu uns in die Cafeteria.
    Wir setzten uns mit einer Cola unter die orangefarbenen Plastiklampenschirme und warteten. Als sie in ihrem Spitzenhäubchen kam, hatte sie nur zwanzig Minuten Zeit, Lucas wollte sie zu einem Getränk einladen, doch sie lehnte ab. Ich dachte, No hätte ihr vielleicht eine Karte geschrieben, zur Erinnerung an die Zeit, die sie beide gemeinsam mit Loïc verbracht hatten, sie hätte ihr vielleicht sagen wollen, dass sie nun in Irland sei und es ihr bessergehe. Doch Geneviève hatte nichts von ihr gehört. Sie erzählte uns von Loïc genau dasselbe, was mir No erzählt hatte, dass er nach Irland gegangen sei und zu schreiben versprochen habe. Doch No hatte nie Post bekommen. Weder im Internat noch später. Von einem Erzieher hatten sie gehört, Loïc lebe in Wexford und arbeite in einer Bar. Er hat nie geschrieben.

M onsieur Marin hat seine Stunde beendet, wir haben mitgeschrieben und uns kein Wort entgehen lassen, obwohl heute letzter Schultag ist. Er hat eine Viertelstunde vor dem Klingeln Schluss gemacht, damit wir Zeit haben, die Klasse aufzuräumen. Wir nehmen die Poster von der Wand und rollen sorgsam die Karten und Zeichnungen auf, der Klassenraum soll in den Ferien gestrichen werden. Im nächsten Schuljahr zieht Lucas zu seiner Mutter nach Neuilly, sie wollen die Wohnung verkaufen. Im nächsten Schuljahr gehe ich zu Léa Germains Geburtstagsparty, sie hat es mich vor Zeugen versprechen lassen. Im nächsten Schuljahr ist Monsieur Marin nicht mehr da, er geht in den Ruhestand. Er wirkt ein bisschen traurig, obwohl er klagt, das Niveau sinke von Jahr zu Jahr, es werde immer schlimmer, er wolle lieber aufhören, bevor er eine Hammelherde unterrichten müsse.

    Ich sehe durchs Fenster auf den hellen Himmel. Sind wir so klein, so unendlich klein, dass wir nichts ausrichten können?

    Wir verlassen den Klassenraum, meine Klassenkameraden verabschieden sich herzlich von Monsieur Marin, auf Wiedersehen, Monsieur Marin, alles Gute, schöne Ferien, erholen Sie sich gut.
    Als ich durch die Tür gehen will, spricht er mich an.
    »Mademoiselle Bertignac?«
    »Ja?«
    »Ich möchte Ihnen etwas geben.«
    Ich gehe zu seinem Pult. Er hält mir ein altes, in Packpapier eingeschlagenes Buch hin. Ich nehme es und öffne es auf der ersten Seite, ich komme nicht dazu, den Titel zu lesen, nur seinen Namen, in blauer Tinte: Pierre Marin, 1954.
    »Dieses Buch ist für mich sehr wichtig gewesen, als ich ein junger Mann war.«
    Das Papier ist vergilbt, das Buch scheint vier oder fünf Jahrhunderte überdauert zu haben. Ich danke ihm, ich bin jetzt allein mit ihm im Klassenraum und fühle mich sehr eingeschüchtert, ich weiß überhaupt nicht, was man in solchen Fällen sagt, ich bin sicher, es ist ein sehr schönes Geschenk, ich danke ihm erneut. Ich gehe auf die Tür zu, er spricht mich noch einmal an.
    »Mademoiselle Bertignac?«
    »Ja?«
    »Geben Sie nicht auf.«

G eneviève ist wieder in ihre Fleischabteilung zurückgekehrt, sie hat uns noch einmal zugewinkt, bevor sie verschwand.
    Ich sah wohl ein bisschen traurig aus, denn Lucas strich mir sehr sanft mit der Hand übers Gesicht.
    Er näherte seinen Mund meinem Mund, ich spürte erst seine Lippen und dann seine Zunge, und unser Speichel mischte sich.
    Da begriff ich, dass unter all den Fragen, die ich mir stelle, die nach der Drehrichtung der Zunge nicht die wichtigste ist.

    Mai 2006 – März 2007

Über Delphine de Vigan
    Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute noch mit ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitet tagsüber für ein soziologisches Forschungsinstitut und schreibt nachts, wenn alle schlafen, ihre Romane. Ihr dritter Roman, "No & ich", wurde in 11 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet (u. a. 2008 mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International). Auch ihr neuester Roman war für den Prix Goncourt nominiert.

Über dieses Buch
    Lou ist hochbegabt und eine Einzelgängerin. Am liebsten beobachtet sie die Menschen um sich herum und stellt dabei gewagte Theorien auf, um das zu verstehen, was tagtäglich mit uns geschieht. Bis sie auf die achtzehnjährige No trifft, die mitten in Paris auf der Straße lebt. No mit den dreckigen Klamotten und dem müden Gesicht. No, die jeden Tag um ein Essen und einen Schlafplatz kämpfen muss. No, deren Einsamkeit die Welt in Frage stellt. Und Lou stürzt sich in

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