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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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ich anziehen sollte, ich hatte an alles gedacht, ich hatte bei Radiomusik tanzen geübt und jeder ein Geschenk gekauft, und dann kam der betreffende Abend. Ich zog meine schönste Jeans an und das T-Shirt von Pimkie, meine dicken Stiefel, meine schwarze Jacke, ich hatte mir morgens die Haare gewaschen, damit sie seidiger wären, und dann betrachtete ich mein Spiegelbild. Ich war ganz klein: Ich hatte kleine Beine, kleine Hände, kleine Augen, kleine Arme, ich war irgend so etwas Kleines, das nach nichts aussah. Ich stellte mir vor, wie ich im Wohnzimmer von Léa Germain tanzen würde, mitten unter den anderen, ich legte die Tüte mit den Geschenken wieder ab, zog meine Jacke aus und schaltete den Fernseher an. Meine Mutter saß auf dem Sofa, sie hatte alles beobachtet, und ich sah genau, dass sie überlegte, was sie sagen sollte, es hätte nicht viel sein müssen, bestimmt nicht, wenn sie zum Beispiel gesagt hätte, du bist sehr hübsch, oder auch nur, du bist richtig niedlich, ich glaube, dann hätte ich die Kraft gefunden loszugehen, auf den Fahrstuhlknopf zu drücken und so. Doch meine Mutter verharrte in ihrem Schweigen, und ich sah die Werbung, in der ein Mädchen ein Zauber-Deo benutzt und dann mitten zwischen den Leuten tanzt, ein Blitzlichtgewitter, und sie dreht sich in ihren Volantröcken, am liebsten hätte ich geweint.

    Montags habe ich mich bei ihnen entschuldigt, ich habe Familiengründe vorgeschützt. Axelle sagte, ich hätte das Fest des Jahres verpasst, und ich schaute zu Boden. Seit diesem Tag haben Léa Germain und Axelle Vernoux kein Wort mehr mit mir gesprochen.

    Einmal hat mir Madame Cortanze, eine Psychologin, zu der ich einige Monate lang ging, erklärt, was es heißt, intellektuell frühreif zu sein. »Stell dir vor, du wärst ein supermodernes Auto und hättest viel mehr Funktionen und Möglichkeiten als die meisten Autos, du wärst schneller und leistungsfähiger. Das ist eine enorme Chance. Aber es ist nicht einfach. Denn niemand weiß genau, über welche Möglichkeiten du verfügst oder was du damit anfangen kannst. Nur du kannst es wissen. Und außerdem ist Schnelligkeit gefährlich. Denn mit deinen acht Jahren kennst du nicht unbedingt die Straßenverkehrsordnung, vielleicht kannst du noch nicht einmal fahren. Es gibt vieles, was du lernen musst: bei Regen und bei Schnee fahren, auf die anderen Wagen achten, sie respektieren und dich ausruhen, wenn du zu lange gefahren bist. Darin nämlich besteht das Erwachsenwerden.«
    Ich bin jetzt dreizehn, und ich erkenne klar, dass ich nicht im richtigen Sinne erwachsen werde, ich kann die Schilder nicht deuten, ich beherrsche mein Fahrzeug nicht, ständig schlage ich die falsche Richtung ein, und ich habe oft das Gefühl, auf einem Auto-Skooter gefangen zu sein, statt auf einer Rennbahn zu fahren.

    Ich lehne an meinem Baum und versuche mir eine Krankheit einfallen zu lassen, die ich um den 10. Dezember herum wirklich bekommen könnte, irgendetwas so Schwerwiegendes, dass niemand einen Zusammenhang mit meinem Referat unterstellen könnte. Tetanus oder Tuberkulose erscheinen mir zu unrealistisch, wegen der Impfungen und so, Knochenbrüche sind zu schmerzhaft (das weiß ich, weil ich mir letztes Jahr beim Spielen mit meinen Cousins den Arm gebrochen habe), und außerdem kann man nicht sicher sein, dass man damit zu Hause bleiben darf, Hirnhautentzündung würde die Schließung der Schule zur Folge haben, aber man kann daran sterben, und um das Pfeiffersche Drüsenfieber zu bekommen, muss man Jungs küssen, das steht noch nicht an. Kurzum, selbst wenn ich Rinnsteinwasser trinke oder kopfüber in die Biomülltonne unseres Wohnhauses tauche, kann ich nicht sicher sein, mir etwas einzufangen. Und so klassische Geschichten wie Schnupfen und Angina kann ich gleich vergessen. Ich werde nur alle fünf Jahre einmal krank, und dann in den Schulferien. Bleibt mir nur, auf einen Bombenalarm zu hoffen oder auf einen Terroranschlag, nach dem das komplette Gebäude neu wiederaufgebaut werden müsste.

    Gerade hat es geklingelt. Die anderen Schüler machen sich wieder auf den Weg in ihre Klassenräume, bis dann, sagen sie und schlagen sich in die Hände, Lucas kommt näher, man könnte meinen, er käme auf mich zu, und ich überlege, wie ich mir eine Haltung geben könnte, und bohre die Hände in die Hosentaschen, wieso ist es in meinem Mantel plötzlich fünfzig Grad heiß? Wär ich bloß mit einer Notkühlungsanlage ausgestattet, das wär mir jetzt eine echte

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