No & ich: Roman (German Edition)
ein Lokal außerhalb. Wir kommen am Zeitschriftenladen vorbei, sie macht einen kleinen Umweg und sagt der Frau an der Kasse guten Tag. Ich sehe von ferne zu, die Frau hat einen großen Busen, einen geschminkten Mund und flammend rotes Haar, sie gibt No ein Bounty und ein Päckchen Butterkekse, dann kommt No zu mir zurück. Wir überqueren den Boulevard und gehen in eine dieser großfenstrigen Brasserien, die alle gleich aussehen, ich kann gerade noch den Namen über dem Eingang lesen. Drinnen im Relais d’Auvergne riecht es nach Wurst und Kohl, in meiner inneren Datenbank suche ich nach einer kulinarischen Spezialität, die zu diesem Geruch passen könnte, Kohleintopf, Kohlrouladen, Rosenkohl, Weißkohl, hier schieben die Leute Kohldampf, die wollen uns bloß verkohlen, immer muss ich auf Abwege geraten, mich verzetteln, es nervt, aber ich kann nicht anders.
Wir setzen uns, No behält ihre Hände unter der Tischplatte. Ich bestelle eine Cola, sie nimmt einen Wodka. Der Kellner zögert einen Moment, gleich wird er nach ihrem Alter fragen, doch sie hält seinem Blick mit unglaublicher Unverfrorenheit stand, halt dich raus, du Knallkopf, sagen ihre Augen, da bin ich mir sicher, lesbar wie auf einem Plakat, dann sieht er ihren löchrigen Blouson, den sie obendrüber trägt, und wie schmutzig er ist, in Ordnung, sagt er und geht.
Ich sehe oft, was in den Köpfen der Leute vorgeht, es ist wie eine Schnitzeljagd, ein roter Faden, den man nur durch die Finger gleiten lassen muss, er ist zart und führt einen zur Wahrheit über die Welt, der Wahrheit, die nie enthüllt wird. Einmal hat mir mein Vater gesagt, dass er das beängstigend finde, man dürfe damit nicht spielen und müsse in der Lage sein, den Blick abzuwenden, um seine Kinderaugen zu behalten. Aber ich kann meine Augen nicht verschließen, sie sind weit offen, manchmal halte ich sie mir mit den Händen zu, um nicht zu sehen.
Der Kellner kommt zurück und stellt uns die Gläser hin, No greift hastig nach ihrem. Und da sehe ich ihre schmutzigen Hände, die bis ins Fleisch abgekauten Nägel, die Kratzwunden an den Handgelenken. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube.
So trinken wir, schweigend, ich suche nach Worten, doch es kommt keins, ich sehe sie an, sie sieht so müde aus, nicht nur wegen der Augenringe, des mit einem alten Haargummi zusammengehaltenen verfilzten Haars und der schäbigen Kleidung, kaputt, das ist das Wort, das mir in den Sinn kommt, es tut weh, dieses Wort, ich weiß nicht mehr, ob sie schon beim ersten Mal so war, vielleicht hatte ich es nicht bemerkt, aber mir scheint eher, dass sie sich in den wenigen Tagen verändert hat, sie ist blasser oder auch schmutziger, und ihr Blick ist schwerer aufzufangen.
Sie spricht als Erste.
»Wohnst du hier in der Gegend?«
»Nein. Bei der Metrostation Filles du Calvaire. In der Nähe vom Cirque d’Hiver. Und du?«
Sie lächelt. Sie breitet die Hände aus, ihre schmutzigen, leeren Hände, eine Geste der Ohnmacht, die bedeutet: nichts, nirgends, hier … ich weiß nicht.
Ich trinke einen großen Schluck Cola und frage:
»Und wo schläfst du?«
»Mal hier, mal da. Bei irgendwelchen Leuten. Bekannten. Selten mehr als drei oder vier Tage am selben Ort.«
»Und deine Eltern?«
»Ich hab keine.«
»Sind sie tot?«
»Nein.«
Sie fragt mich, ob sie sich noch etwas zu trinken bestellen dürfe, sie zappelt unter dem Tisch mit den Füßen, sie ist außerstande, sich zurückzulehnen oder ihre Hände ruhig irgendwo hinzulegen, sie beobachtet mich, mustert meine Kleidung, nimmt eine andere Haltung ein, kehrt zur vorherigen zurück, dreht ein orangefarbenes Feuerzeug zwischen den Fingern. Ihr ganzer Körper ist ständig in Bewegung und angespannt, so sitzen wir da und warten auf den Kellner, ich versuche zu lächeln, um natürlich zu wirken, aber nichts ist schwerer, als natürlich zu wirken, wenn man sich genau das vornimmt, obwohl ich sehr viel Übung darin habe. Ich halte die Flut der Fragen zurück, die mir durch den Kopf schießen, wie alt bist du, seit wann gehst du nicht mehr zur Schule, wie sorgst du für dein Essen, was sind das für Leute, bei denen du übernachtest, ich habe Angst, sie könnte dann weggehen und sich darüber klar werden, dass sie mit mir nur ihre Zeit verschwendet.
Sie nimmt ihren zweiten Wodka in Angriff, steht auf, um sich eine Zigarette vom Nebentisch zu schnappen (unser Nachbar ist zur Toilette hinuntergegangen und hat die Schachtel liegenlassen), inhaliert dann tief und
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